Peter Hoeg
sechziger Jahren von Schindewolf geprägt. Er war Paläontologe. Aber an der Debatte haben sich alle möglichen Naturwissenschaftler beteiligt. Sie teilen die Vorstellung, daß sich die Erde – und insbesondere ihre Biologie – nicht gleichmäßig, sondern in Sprüngen entwickelt hat. Gesteuert durch große Naturkatastrophen, die das Überleben bestimmter Arten begünstigt haben. Meteoriteneinschläge, Kometenpassagen, Vulkanexplosionen, spontane chemische Katastrophen. Im Kern der Diskussion ging es immer um die Frage, inwieweit diese Katastrophen in regelmäßigen Zeitabständen vorgekommen sind. Und wenn, was bestimmt dann ihre Häufigkeit? Man hat eine internationale Gesellschaft gegründet. Die erste Tagung war in Kopenhagen. Im Falkonercenter. Wurde von der Königin eröffnet. Es konnte gar nicht vornehm genug sein. Die kriegen von überall her Geld. Die Gewerkschaften geben es, weil sie glauben, daß es sich um Forschung über Umweltkatastrophen handelt. Der Industrierat gibt es, weil er glaubt, daß es jedenfalls nicht um Umweltkatastrophen geht. Die Forschungsgemeinschaften geben es, weil sie mit einem Haufen Namen angeben können.«
»Sagt dir in dem Zusammenhang der Name ›Hviid‹ etwas? Tørk Hviid?«
»Irgendein Komponist hieß mal Hviid.«
»Das klingt nicht danach, als sei das der.«
»Du weißt, daß ich mir Namen schlecht merken kann, Smilla.«
Das ist wahr. Er behält Körper, Titel. Er kann jeden Schlag in jedem größeren Turnier, das er gespielt hat, rekonstruieren. Aber er vergißt regelmäßig den Namen seiner Sekretärin. Das ist symptomatisch. Für den wirklichen Egozentriker verblaßt die Umwelt und wird namenlos.
»Warum bist du nicht zu dem Seminar gegangen?«
»Ach, es war mir einfach zu bunt, Smilla. Mit all diesen gegensätzlichen Interessen. Der ganzen Politik. Du weißt, daß ich der Politik lieber aus dem Wege gehe. Und dann haben sie sich nicht mal getraut, das Wort ›Katastrophe‹ zu benutzen. Sie nannten es ›Zentrum für Entwicklungsforschung‹.«
»Kannst du herauskriegen, wer Hviid ist?«
Er holt tief Luft, erfüllt von seiner unerwarteten Macht.
»Ich rechne also damit, daß du morgen rauskommst«, sagt er.
Ich will gerade sagen, daß er die Auskünfte schicken muß. Aber ich bin geschwächt und irgendwie aufgeweicht. Er spürt es.
»Du kannst mich und Benja morgen bei ›Savarin‹ treffen.«
Das klingt wie ein Befehl, ist aber als schneller Kompromiß gemeint.
Eines der Kinder macht auf.
Ich bin die erste, die zugibt, daß Kaltwetterklima unvorhersagbar ist. Trotzdem bin ich für einen Moment überrascht. Draußen ist es fünf Uhr nachmittags. An einem marineblauen, wolkenlosen Himmel sind die ersten Sterne sichtbar. Aber drinnen, um das Kind, schneit es. Eine feine Schicht liegt auf den roten Haaren, den Schultern, dem Gesicht und den bloßen Armen.
Ich folge dem Mädchen. Im Wohnzimmer ist überall Mehl. Drei Kinder kneten den Teig direkt auf dem Parkett. In der Küche steht die Mutter der Kinder und schmiert die Backbleche ein. Auf dem Küchentisch sitzt ein kleines Mädchen und knetet etwas, das aussieht wie Mürbeteig. Sie versucht gerade, ihn dazu zu kriegen, ein Eidotter zu absorbieren. Mit beiden Händen und Füßen.
»Im Wohnzimmer ist die Mehltüte geplatzt.«
»Ja«, sage ich. »So wird der Fußboden wenigstens schön sauber.«
»Er sitzt draußen im Wintergarten. Hier drin habe ich ihm das Rauchen verboten.«
Sie besitzt eine autoritative Stärke wie der liebe Gott in meinen Kindheitsvorstellungen. Und eine unerschütterliche Milde wie der Weihnachtsmann in einem Disneyfilm. Wer wissen will, wer die eigentlichen Helden der Weltgeschichte sind, muß sich die Mütter anschauen. In den Küchen, an den Backblechen. Während die Männer draußen auf der Toilette sitzen. Draußen in der Hängematte liegen. Draußen im Wintergarten hocken.
Er bürstet die Kakteen ab. Die Luft ist blau von Zigarrenrauch. Er hat einen kleinen Besen, der schmal wie eine Zahnbürste, jedoch langhaarig, gebogen und vielleicht dreißig Zentimeter lang ist.
»Damit die Poren nicht verstopfen. Das würde sie am Atmen hindern.«
»Alles in allem«, sage ich, »wäre das vielleicht ein Vorteil.«
Er sieht schuldbewußt aus.
»Meine Frau verbietet mir, in der Nähe der Kinder zu rauchen.« Er zeigt mir den Zigarrenstummel.
» Romeo und Giulietta . Eine klassische Havanna. Schmeckt verdammt gut. Vor allem die letzten Zentimeter. Wenn man sich fast die Lippen
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