Peter Hoeg
ich an einem Abhang stehe, mich gegen einen steifen Wind lehne und ebensogut aufgeben kann.
Das Wasser um mich herum ist ein Mosaik aus Goldstückchen. Ich erinnere mich, daß jemand versucht hat, mich umzubringen. Daß sie jetzt irgendwo dort drüben stehen und sich beglückwünschen. Jetzt haben wir sie. Smilla. Die Pappgrönländerin.
Dieser Gedanke hebt mich das letzte Stück. Ich beschließe, noch zehn Züge zu machen.
Beim achten knalle ich mit dem Kopf an einen der Traktorreifen, die als Fender an der Nordlicht gehangen haben.
Ich weiß, daß mir nur noch wenige Sekunden Bewußtsein bleiben. Neben dem Reifen liegt gerade eben über dem Wasser eine Plattform. Ich versuche mich gleichsam auf sie hinaufzuschreien. Es kommt kein Ton. Aber ich komme hoch.
In Grönland rennt man, wenn man ins Wasser gefallen ist, um Erfrierungen zu vermeiden. Aber dort ist die Luft kalt. Hier ist sie herrlich mild wie im Sommer. Erst verstehe ich nicht, wieso. Dann sehe ich, daß es wegen des Feuers ist. Ich bleibe auf der Plattform liegen. Die ›Nordlicht‹ ist jetzt mitten in der Hafeneinfahrt, ein kohlschwarzes Holzskelett in einer weißen Feuerkugel.
Ich krieche auf Händen und Knien die Treppe hoch. Der Kai ist verlassen. Keine Spur von Menschen. Ich bleibe auf einer Stufe hängen, ruhe mich in der Hitze des brennenden Schiffes aus. Ich sehe meine eigene nackte Haut glühen. Den kleinen Flaum, der schwarz versengt und gekräuselt ist. Dann gehe ich, langsam. Die Halluzinationen kommen stückweise, unzusammenhängend. Aus der Zeit, als ich klein war. Eine Blume, die ich gefunden hatte, Knöterich, mit Knospen. Die krampfhafte Sorge, ob Eberlein wohl noch mehr von dem Brokat hat, aus dem mein Hut war. Das Gefühl, krank zu sein und ins Bett zu machen.
Vor mir Autoscheinwerfer, es ist mir egal. Das Auto bleibt stehen, es ist mir gleichgültig. Etwas hüllt mich ein. Nichts könnte mich weniger interessieren. Ich liege. Ich erkenne die Löcher im Dach. Es ist der kleine Morris. Es ist der Hals des Mechanikers. Er fahrt den Wagen.
»Smilla«, sagt er. »Smilla, zum Teufel . . .«
»Halt die Klappe«, sage ich.
In seiner Wohnung packt er mich in Wolldecken und massiert mich, bis es zu weh tut. Danach läßt er mich eine Tasse Milchtee nach der anderen trinken. Es ist, als wollte die Kälte nicht weggehen. Als sei sie bis in das Skelett vorgedrungen. Irgendwann nehme ich auch ein Glas Alkohol an.
Ich weine ziemlich viel. Unter anderem aus Selbstmitleid. Ich erzähle von Jesajas Versteck. Von dem Kassettenband. Von dem Kurator. Von dem Anruf. Von dem Brand. Ich habe das Gefühl, daß mein Mund nicht stillsteht, und zugleich stehe ich irgendwo außerhalb und schaue zu.
Von ihm kein Kommentar.
Irgendwann füllt er die Badewanne mit Wasser. Ich schlafe in der Wanne ein. Er weckt mich. Wir liegen nebeneinander in seinem Bett und schlafen. Immer ein paar Stunden am Stück. Mir wird erst richtig warm, als es wieder hell wird.
Es ist Vormittag, als wir miteinander schlafen. Ich bin wohl nicht richtig bei mir.
III
1
Ich wechsele zweimal das Taxi und steige am Farumvej aus. Von dort aus gehe ich durch das Utterslever Moor und schaue mich x-mal um.
Ich telefoniere vom Tuborgvej aus.
»Was ist Neocatastrophism? «
»Warum rufst du immer von diesen schrecklichen Telefonzellen aus an, Smilla? Hat es was mit Geld zu tun? Haben sie dir das Telefon gesperrt? Soll ich dafür sorgen, daß sie es wieder anschließen?«
Für Moritz ist Silvester das Fest aller Feste. Er leidet an dem zyklisch wiederkehrenden Selbstbetrug, daß man von vorn anfangen, daß man auf Vorsätzen ein neues Dasein aufbauen kann. Am ersten Tag des neuen Jahres miaut sein Kater dann so laut, daß man es durchs Telefon hört. Selbst an einem Münzautomaten.
»In Kopenhagen ist ein Seminar darüber gewesen, im März '92«, sage ich.
Er stöhnt gedämpft, während er versucht, sein Gehirn zum Funktionieren zu bringen. Was es schließlich in Gang setzt, ist die Tatsache, daß die Frage einen Zusammenhang mit ihm selbst hat.
»Ich bin eingeladen gewesen«, sagt er.
»Weshalb bist du nicht hingegangen?«
»Man mußte so viel lesen.«
Er erzählt schon seit vielen Jahren, daß er aufgehört hat zu lesen. Das ist erstens Schwindel. Zweitens ist es eine unerträgliche Art, durchblicken zu lassen, daß er jetzt so gut ist, daß seine Umwelt ihm nichts mehr beibringen kann.
»Neokatastrophismus ist ein Sammelbegriff. Der Ausdruck wurde irgendwann in den
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