Peter Hoeg
die kleinen Brandwunden fand. Irgendwann waren sie mit ihm nämlich am Ende. Was immer das war. Und dann haben sie etwas ganz Geschicktes gemacht. Sie haben ein bißchen Watte getränkt, vielleicht in dem Hydroxid, das hatten sie ja zur Hand. Dann haben sie eine Leitung geteilt und einen Pol an jedes Ohr angeschlossen, den Stecker eingesteckt und ganz ruhig den Strom eingeschaltet. Auf der Stelle tot. Schnell, billig, sauber.«
Er schüttelt den Kopf. Er ist Arzt, kein Psychologe. Der Welt, in der wir leben, steht er verständnislos gegenüber.
»Das waren Fachleute, verdammt noch mal. Aber wenn ich an Neujahrsvorsätze glauben würde, dann würde ich mir vornehmen, sie zu erwischen.«
Ich bin gegen eins aufgewacht. Ich habe geschlafen, bin jedoch von der einen Sekunde zur nächsten wach. Er liegt neben mir. Auf dem Bauch, die Hände an der Seite. Die eine Seite seines schlafenden Gesichts drückt sich am Laken flach. Mund und Nase vibrieren weich, als rieche er an einer Blume. Oder als wollte er ein Kind küssen. Ich liege still und sehe ihn mir an, wie ich ihn bisher noch nicht habe ansehen können. Seine Haare sind braun, mit ein paar grauen Strähnen. Dick, wie die Borsten eines Handfegers. Wenn man seine Finger hineingräbt, ist es, als würde man sich an einer Pferdemähne festhalten.
Hier im Bett kommt das Glück zu mir. Nicht als etwas, was mir gehört. Wie ein Rad aus Feuer, das durch Welt und Raum läuft.
Einen Augenblick lang glaube ich, daß es mir gelingt, es vorbeirollen zu lassen, daß ich liegenbleiben, spüren kann, was ich habe, und mir nicht mehr wünsche als das. Und im nächsten Moment möchte ich daran hängenbleiben. Ich will, daß es dauert. Er soll auch morgen neben mir liegen. Das hier ist meine Chance. Meine einzige, meine letzte.
Ich schwinge die Beine aus dem Bett, auf den Boden. Jetzt reagiere ich panisch.
Siebenunddreißig Jahre habe ich daran gearbeitet, genau das zu vermeiden. Systematisch habe ich das einzige in dieser Welt geübt, das lernenswert ist. Verzichten. Ich habe aufgehört, auf irgend etwas zu hoffen. Wenn praktizierte Demut zur olympischen Disziplin erklärt wird, komme ich in die Nationalmannschaft.
Ich habe nie Nachsicht mit dem Liebeskummer anderer Leute gehabt. Ich hasse ihre Schwäche. Ich sehe, wie sie jemanden finden, am Ende des Regenbogens. Ich sehe, wie sie Kinder kriegen und einen Silver-Cross-Royal-Blue-Kinderwagen kaufen, in der Frühjahrssonne auf dem Stadtwall Spazierengehen, mich herablassend anlachen und denken, arme Smilla, sie weiß nicht, was ihr entgeht, sie weiß nicht, wie das Leben für uns ist, wie das ist, wenn man ein Baby und ein verbrieftes Recht aufeinander hat.
Vier Monate später gemütliches Beisammensein in der alten Geburtsvorbereitungsgruppe. Ferdinand hat einen kleinen Rückfall, legt auf einem Spiegel ein paar Bahnen aus, sie findet ihn draußen auf der Toilette, wo er mit einer der anderen frohen Mütter rammelt, und in einer Nanosekunde ist sie von der großen, stolzen, souveränen, unverletzlichen Mama auf einen geistigen Gnom reduziert. Mit einer einzigen Bewegung fällt sie auf mein Niveau und darunter und wird zu einem Insekt, einem Regenwurm, einem Skolopender.
Und dann werde ich hervorgeholt und abgestaubt, dann darf ich mir anhören, wie schwer es ist, nach der Scheidung alleinstehende Mutter zu sein, wie sie sich in die Haare geraten sind, als sie die Stereoanlage teilen wollten, wie ihre Jugend von dem Kind aufgesogen wird, das jetzt eine Maschine ist, die sie auffrißt und nichts wieder zurückgibt.
Das habe ich mir nie anhören wollen. Was zum Teufel habt ihr euch eigentlich vorgestellt, habe ich gesagt. Glaubt ihr vielleicht, ich redigiere einen Kummerkasten für Frauen? Glaubt ihr, ich bin ein Tagebuch? Die Telefonseelsorge?
Eines ist auf Schlittenreisen streng verboten, und das ist Winseln. Jammern ist ein Virus, eine tödliche, infektiöse, epidemische Krankheit. Ich will das nicht hören. Ich will mich von diesen Orgien emotionaler Kleinlichkeit nicht belämmern lassen.
Deshalb habe ich jetzt Angst. Ich höre etwas, hier im Raum, neben seinem Bett. Es kommt aus mir selbst, und es ist ein Winseln. Es ist die Angst, daß das, was mir gegeben worden ist, nicht dauern wird. Es ist der Klang all der unglücklichen Liebesgeschichten, die ich mir nie habe anhören wollen. Jetzt klingt es, als hätte ich sie alle in mir.
Aber noch bin ich zu retten. Ich kann meine Sachen zusammensuchen und sie unter den Arm
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