Peter Hoeg
nicht geschlafen hat.
»Wissen Sie, was die erste Bedingung ist, wenn man im Justizministerium Karriere machen will?« fragt er.
Ich sehe mich um. Er scheint allein zu sein.
»Die erste Bedingung ist Loyalität . Einen hohen Examensdurchschnitt mußte man auch haben. Und den Willen zu einem über das Übliche hinausgehenden Arbeitseinsatz. Auf die Dauer entscheidend aber war: ob man loyal war. Gesunder Menschenverstand dagegen war keine Voraussetzung. Konnte ganz im Gegenteil ein Hindernis sein.«
Ich setze mich auf einen Stuhl. Der Mechaniker lehnt sich an den Schreibtisch.
»Irgendwann mußte man sich dann entscheiden. Einige sind Gerichtsassessor geworden und mit der Zeit Richter. Die hatten oft ein selbstverständliches Vertrauen in die Gerechtigkeit, in das System. Einen Glauben daran, daß man heilen und aufbauen kann. Wir anderen sind zur Polizei gegangen, wurden Polizeiassessor, Polizeikommissar, und später kamen wir zur Staatsanwaltschaft. Der eine oder andere wurde mit der Zeit vielleicht sogar Assessor. Wir waren die Mißtrauischen. Wir meinten, daß eine Erklärung, ein Geständnis, ein Ereignis nur selten das sind, wofür sie sich ausgeben. Dieses Mißtrauen war ein ausgezeichnetes Werkzeug. Solange es sich nicht gegen unsere Arbeit oder gegen das Ministerium richtete. Ein Beamter der Staatsanwaltschaft darf niemals daran zweifeln, daß er recht hat. Jede zudringliche Frage der Presse ist an höhere Instanzen zu verweisen. Jeder auch nur andeutungsweise kritische Artikel, den man veröffentlicht – ja, im großen und ganzen überhaupt jeder Artikel –, würde als Illoyalität gegenüber dem Ministerium ausgelegt. Im Justizministerium existiert man gewissermaßen nicht mehr als Individuum. Die meisten ordnen sich diesem Anspruch unter. Man könnte sogar sagen, daß die meisten es insgeheim als Befreiung erleben, daß der Staat ihnen das Problem abnimmt, ein selbständiger Mensch sein zu müssen. Die wenigen, die sich nicht einordnen können, werden frühzeitig aussortiert.«
Ich habe das auf langen Reisen gesehen. Wenn ein Mensch abgearbeitet ist, entdeckt er plötzlich in seinem eigenen Inneren Landschaften aus fröhlichem Zynismus.
»Trotzdem passiert es ab und zu, daß eine undurchsichtige Persönlichkeit im System bleibt. Ein Mensch, der seinen wahren Charakter verbergen kann, bis es zu spät ist. Bis er sich so unentbehrlich gemacht hat, daß das Ministerium ihn nur noch schwer abschieben kann. So jemand kommt nie nach oben, aber ein gutes Stück weit bringt er es schon. Vielleicht bis zum Assessor bei der Staatsanwaltschaft. Dann ist er zu alt – und auf seinem Gebiet vielleicht auch zu kompetent –, als daß man ihn entbehren könnte. Aber er ist zu unbequem geworden, als daß man ihn nach oben treten könnte. Ein solcher Mensch wird zu einem kleinen Stein im Schuh des Ministeriums. Er tut nicht richtig weh, aber er irritiert. Eine solche Person wird man mit der Zeit in eine Nische abzuschieben versuchen. Wo man auf ihre Beharrlichkeit und ihr Gedächtnis zurückgreifen kann, sie jedoch aus dem Licht der Öffentlichkeit heraushält. Vielleicht kümmert sich der Mann dann um besondere Aufgaben. Zum Beispiel um nachrichtendienstliche Angelegenheiten, bei denen er sich naturgemäß im Dunkeln halten muß. Und bei ihm könnte vielleicht auch eine Beschwerde über die Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod eines kleinen Jungen enden. Wenn sich herausstellen würde, daß in diesem Fall bereits ein Bericht vorliegt.«
Er sieht keinen von uns an. Er spricht in den Raum hinein.
»Es kommt vor, daß man von oben den Auftrag erhält, den Beschwerdeführer zu beruhigen. Zu ›drücken‹, wie es im Ministerium heißt. Darin hat man eine gewisse Erfahrung, Diesmal ist die Sache allerdings schwieriger. Tod eines Kindes. Fotografien seiner Spuren auf dem Dach. Das könnte leicht zu einer Gewissensfrage werden. Ich bringe also den Gedanken vor, daß im Zusammenhang mit dem Tod des Jungen eine Unregelmäßigkeit vorliegt. Doch es kommt keine Unterstützung, weder von der Polizei noch vom Ministerium.«
Mühsam steht er vom Stuhl auf.
»Dann passiert dieses unselige Brandunglück. Das ist ja leider auch was mit Grönland. Und der Herr, der dabei umkommt, wird in dem erwähnten Bericht genannt. Gestern morgen hat man mir den Fall weggenommen. ›Wegen seines komplexen Charakters‹, und so weiter.«
Er rückt den Hut zurecht und geht zum Schreibtisch. Er klopft leicht auf das rote Klebebandkreuz
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