Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Vom Netzwerk:
Gummiknüppel gewesen sind, die man anderen über den Schädel ziehen kann, gehört das Wort ›kultiviert‹. Doch vielleicht könnte man es für die Frau im Vordergrund benutzen. Sie hat weiße Haare, trägt eine randlose Brille und ein weißes Wollkostüm. Sie muß Mitte Sechzig sein. Auf den folgenden Bildern sieht man sie umgeben von Kindern. Enkelkindern. Das erklärt den Milchzahn. Sie schiebt ein Kind in der Schaukel an, schneidet an einem Tisch, der in einem Garten steht, Kuchen auf, nimmt einen Säugling entgegen, den ihr eine jüngere Frau reicht, die ihren Kiefer, aber Ravns Magerkeit hat. Die Bilder sind in Farbe. Das nächste ist schwarzweiß. Sieht aus wie überbelichtet.
    »Das sind Jesajas Spuren im Schnee«, sage ich.
    »Warum sieht das dann so aus?«
    »Weil die Polizei keinen Schnee fotografieren kann. Wenn man aus einem Winkel von über fünfundvierzig Grad Blitz oder Lampen benutzt, verschwindet alles in Reflexen. Es geht nur mit Polarisationsfiltern und Lampen in Schneehöhe.«
    Das nächste Foto zeigt eine Frau auf einem Bürgersteig. Die Frau bin ich. Es ist der Bürgersteig vor Elsa Lübings Haus. Das Bild ist verwackelt, durch eine Autoscheibe aufgenommen, ein Teil der Tür ist vor die Linse geraten.
    Mit dem Mechaniker haben sie mehr Glück gehabt. Seine Haare wirken zu kurz, aber sonst stimmt es. Eine Profilaufnahme und eine von vorn.
    »Aus der Militärzeit«, sagt er. »Sie haben die alten Bilder aus der Militärzeit herausgesucht.«
    Das letzte Bild ist wieder ein Farbfoto, es sieht aus wie ein Ferienbild mit Sonne und grünen Palmen.
    »W-warum Bilder von uns?«
    Ravn macht sich keine Notizen und würde sicher auch keine Fotografien als Gedächtnisstütze brauchen.
    »Um sie vorzuzeigen«, sage ich. »Anderen.«
    Ich tue die Papiere, den Zahn und die Münzen zurück ins Portemonnaie. Ich tue alles zurück. Bis auf das letzte Bild. Palmen unter einer sicherlich unleidlichen Sonne. Luftfeuchtigkeit mit Sicherheit fast hundert. Trotzdem trägt der Mann im Vordergrund unter dem Laborkittel Hemd und Schlips. Er wirkt kühl und scheint sich wohl zu fühlen. Es ist Tørk Hviid.

4
    Ich habe eine Smokingjacke mit breiten Revers aus grüner Seide ausgesucht. Schwarze Hosen, die bis knapp über die Knie reichen, grüne Strümpfe, zierliche, grüne Schnallenschuhe und einen kleinen Samtfez für den kahlen Fleck.
    Mit einem Smoking für Frauen hat man immer das Problem, daß man nicht weiß, was man darüber anziehen soll. Ich nehme einen dünnen, weißen Burberry um die Schultern, habe dem Mechaniker aber auch gesagt, daß ich ganz bis zum Eingang gefahren werden will.
    Wir fahren die Østerbrogade und dann den Strandvej entlang. Der Mechaniker ist ebenfalls im Smoking. In anderer Laune hätte ich vielleicht bemerkt, daß es die größte Konfektionsgröße und der Smoking ihm deshalb fünf Nummern zu klein ist, daß er im übrigen aussieht, als hätte er ihn von der Heilsarmee bekommen, und mehr schadet als nützt. Doch jetzt sind wir einander zu nahe gekommen. Selbst jetzt – in seinen Smoking eingezwängt – sieht er für mich aus wie ein Schmetterling, der sich aus seinem schwarzen Kokon herausarbeitet.
    Er sieht nicht zu mir herüber. Er sieht in den Rückspiegel. Er fährt immer noch flüssig und mühelos. Doch seine Augen registrieren die Autos hinter und vor uns.
    Wir biegen in Sundvænget ein, in eine der schmalen Seitenstraßen zum Strandvej, zum Öresund hin. Einstmals endete sie an einer Gartentür, die zum Strand hinunterführte, jetzt endet sie an einer hohen, gelben Mauer und einer weißen Schranke mit Pförtnerhäuschen, aus dem ein Mann in Uniform herauslangt, unseren Paß nimmt und unsere Namen auf einen Bildschirm eingibt, die Schranke öffnet und uns zur nächsten Schranke fahren läßt, wo eine Frau in ähnlicher Uniform zweimal zweihundert Kronen entgegennimmt und uns auf einen Parkplatz läßt, wo wir einem Wächter für einen unverschämt herablassenden Blick auf den Morris fünfundsiebzig Kronen bezahlen. Jetzt muß er auf ihn aufpassen, damit wir unbesorgt durch eine Drehtür in der Marmorfassade und dann zu einer Garderobe gehen können, an der wir beide fünfzig Kronen hinblättern müssen, damit eine Blondine, die ihre Nase so hoch trägt, daß man ihr in die Nasenlöcher gucken kann, unsere Mäntel annimmt.
    Vor einem Spiegel, der eine ganze Wand einnimmt, bessere ich mit meinem Lippenstift ein paar Schäden aus, während ich mich darüber freue, daß ich zu Hause

Weitere Kostenlose Bücher