Peter Nimble und seine magischen Augen
abstand. Seine Zehen- und Fingernägel waren dick und gekrümmt, weil er sie seit Jahren nicht mehr geschnitten hatte. Seine Haut fühlte sich bis zum Hals ganz klamm an, und nur sein ledriges, verbranntes Gesicht zeugte davon, dass er in einer Wüste lebte.
Als Peters Finger bei den Lippen von Alter Scabbs ankamen, waren die fest zusammengepresst. »Aufmachen«, befahl Peter mit seiner strengsten Stimme.
»Nein, nein, nein«, murmelte der Mann, ohne seinen Kiefer zu bewegen. »Ist alles, was Armer Alter Scabbs noch hat. Kleiner Junge darf ihm nicht wegnehmen!«
Als Meisterdieb kannte Peter natürlich die besten Verstecke für Diebesgut. »Er hat etwas im Mund, das kann ich riechen.«
Sir Tode knurrte drohend. »Dann schneide ihn halt auf!«
»Nein!«, flehte der alte Mann undeutlich. »Süßes Kätzchen muss Alter Scabbs glauben! Er hat nichts Gestohlenes im Mund! Ehrenwort!«
»Dann beweis es!«, sagte Peter und versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Es gefiel ihm nicht, einen alten Mann zu piesacken, aber er konnte nicht vorsichtig genug sein – schließlich war es gut möglich, dass da draußen in der Dunkelheit noch Hunderte von weiteren Dieben lauerten, und wenn er und Sir Tode nicht gefährlich genug wirkten, waren sie so gut wie tot.
»Auuuu!«, jaulte Alter Scabbs und fasste sich ans Bein.
»Sag die Wahrheit, sonst gibt’s noch einen«, sagte Peter. »Was hast du gestohlen?«
Endlich gab der alte Mann auf. »Verzeih Armer Alter Scabbs! Es stimmt, er hat etwas genommen, und das tut ihm schrecklich leid. Aber er wollte bloß ein bisschen was zum Knabbern.« Er griff in seinen verfilzten Bart und förderte eine Zitrone zutage.
Peter und Sir Tode betrachteten verdutzt das Diebesgut. Sie hatten beide angenommen, dass er hinter Wertsachen oder Waffen oder Wein her war. »Er riskiert sein Leben für eine Zitrone ?«, sagte Sir Tode verwirrt.
Peter nahm dem Mann die Frucht aus der Hand. »Er ist offensichtlich verrückt.«
Alter Scabbs ließ sich vor Peters Füße fallen. »Oh, KleinerJunge, hab Erbarmen mit Armer Alter Scabbs! Lass ihn nur einmal abbeißen … für seinen allerletzten Zahn!« Er riss den Mund weit auf, damit sie sich selbst davon überzeugen konnten. Der Mann sagte die Wahrheit: Er war vollkommen zahnlos, abgesehen von einem einzigen braunen Stummel vorn. »Das ist der letzte, der noch übrig ist, und Alter Scabbs muss dafür sorgen, dass er gesund und kräftig bleibt!« Er umklammerte Peters Bein. »Bitte, Kleiner Junge!« Mittlerweile schluchzte er so sehr, dass er kaum noch zu verstehen war. »Bitte gib ihm nur einen winzigen Tropfen!«
»Ich verstehe das nicht.« Sir Tode zog seine Schnauze kraus. »Was soll denn ein Tropfen Zitronensaft deinem Zahn nützen?«
Diejenigen unter euch, die sich dieselbe Frage stellen, waren ganz offensichtlich noch nie Piraten oder Seeräuber. Sonst wüsstet ihr nämlich, dass Zitronen und andere Zitrusfrüchte wichtig sind, um sich vor einer üblen Krankheit namens Skorbut zu schützen. Skorbut kriegt man, wenn einem über lange Zeit – also zum Beispiel bei Seereisen – ein magisches Vitamin fehlt, das dafür sorgt, dass einem die Zähne nicht ausfallen. Deshalb müsste es auch eigentlich Vitamin Z heißen und nicht Vitamin C, aber vielleicht kannte sich der Entdecker mit dem Alphabet nicht so gut aus; immerhin wurden »Citronen« früher ja auch mit C geschrieben. Vor allem Seefahrer bekommen oft diese Krankheit, weil auf dem Meer, wie ihr ja wisst, keine Zitronen und Orangen wachsen. Deshalb sind Zitrusfrüchte an Bord eines Schiffes kostbarer als Gold.
Die Bußwüste war zwar kein Meer, aber Obst wuchs dort natürlich auch nicht, und so hatten die meisten Gefangenen durch Skorbut alle ihre Zähne verloren. Armer Alter Scabbshatte einige Jahre zuvor das Glück gehabt, einen Mann zu töten, der einen Krug Orangensaft besaß, und indem er sich den Saft sorgsam eingeteilt hatte, war es ihm gelungen, seinen einen Zahn am Leben zu erhalten. Dieser Zahn verlieh Alter Scabbs großes Ansehen unter den anderen Gefangenen, und viele von ihnen beneideten ihn sehr darum.
Doch wie so viele Dinge im Leben geht auch Orangensaft irgendwann zur Neige, und eines Tages fing der Zahn von Armer Alter Scabbs an zu wackeln. Der alte Mann hatte solche Angst davor, seinen letzten Schatz zu verlieren, dass er versuchte, ihn mit Nadel und Faden anzunähen. Das machte jedoch alles nur noch schlimmer, und nun war der Zahn von einem Gewirr aus verfaultem
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