Pfad der Schatten reiter4
erholt hatten, verlangten sie von ihr, sämtliche Einzelheiten zu hören. Karigan formulierte ihre Antworten vage: »Ich war auf einem Botenritt nach Mirwellton unterwegs … und da kam ich eben zufällig dazu … Nein, Lady Estora ist nichts passiert.« Sie betonte die Rollen, die die anderen bei der Rettungsaktion gespielt hatten, und klammerte sich selbst weitgehend aus der Geschichte aus.
Sie erzählte ihnen, wie die verräterische Gruppe des Zweiten Reiches die Entführung als Ablenkungsmanöver benutzt hatte, damit der König und seine Waffen die Burg nicht so scharf bewachten wie sonst, sodass sie sie infiltrieren und dort »Informationen« sammeln konnten. Das Buch von Theanduris
Silberholz erwähnte sie nicht, und es gelang ihr sogar, die Erwähnung jeglicher übernatürlicher oder magischer Elemente zu vermeiden, denn sie kannte die ablehnende Einstellung ihres Vaters solchen Dingen gegenüber.
Ebenso wenig sprach sie über ihre Abenteuer in den königlichen Grabkammern unter der Burg. Alles, was mit diesen Gräbern zusammenhing, war zwar nicht direkt ein Geheimnis, aber es war auch nicht gerade etwas, worüber man leichthin plauderte.
Ihre Erklärungen schienen alle zufriedenzustellen: ein hinterlistiges Komplott, eine Entführung, eine Infiltration der Burg – all das war verhindert worden, und Karigan hatte dabei geholfen! Sie fürchtete jedoch, dass ihre dritte Botschaft weitere Fragen provozieren würde, und zog sie mit einem Seufzer aus ihrer Tasche. Der Brief trug das königliche Siegel des Feuerbrands und des Sichelmondes. Ihr Vater starrte ungläubig darauf.
»Mehr? Das Siegel des Königs?«
Karigan nickte und wartete angespannt, während er las.
Als er fertig war, sah er sie mit ratlosem Gesicht an und reichte den Brief wortlos an Tante Stace weiter. Karigans Tanten und die Köchin schnappten nach Luft, als sie ihn lasen, und betrachteten Karigan, als sähen sie sie jetzt mit ganz anderen Augen.
Dann lachte ihr Vater. Es war ein freudiges Gelächter, das die ganze Küche mit Wärme erfüllte. Eine solche Reaktion hatte Karigan eher nicht erwartet.
»Ich finde das nicht komisch«, sagte Tante Tory mit einem Schnaufen. »Es ist eine große Ehre für Karigan und unseren Klan.«
Stevic G’ladheon lachte immer noch, er wischte sich sogar Lachtränen aus den Augen, und Karigan konnte nur ungläubig den Kopf schütteln.
»Eine große Ehre, ja«, sagte er. »Ich bin immer sehr stolz auf meine Tochter gewesen, egal welch seltsame Wege sie im Leben eingeschlagen hat. Aber nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir je vorgestellt, dass ein G’ladheon zum Ritter geschlagen würde. Und nicht nur das, sondern es ist auch noch eine Ehre, mit der seit Jahrhunderten niemand mehr ausgezeichnet wurde.« Karigans Vater hielt nicht allzu viel vom Adel, und sie hatte die Ironie dieser Ehrung bereits in dem Augenblick erkannt, als sie damit ausgezeichnet worden war. Nicht, dass der Ritterschlag sie tatsächlich in den Adelsstand erhob, aber immerhin …
»Meine Tochter, Reiterin Sir Karigan G’ladheon!«, grinste er. Dann wurde er wieder ernst und sagte: »Karigan, ich verstehe die Belohnung aus Coutre, aber dies hier geht darüber hinaus. Was verschweigst du uns? Hast du etwa wieder das ganze Königreich gerettet?«
Karigan wand sich auf ihrem Stuhl. »Na ja, Lady Estora ist nun mal die Verlobte des Königs …« Als sie erkannte, dass ihn das nicht zufriedenstellen würde, fügte sie hinzu: »Ich habe auch geholfen, diese Kämpfer vom Zweiten Reich in der Burg zurückzuschlagen. Der König war sehr erfreut.«
Ihr Vater lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Wind jagte den Kamin hinunter, verstreute Asche und ließ das Feuer aufflackern. Der Saft der bratenden Gans zischte.
»Und das ist alles? Du willst uns nicht erzählen, wie das genau vonstatten ging? Ist es ein Geheimnis?«
Fast hätte sie gesagt: Na ja, nachdem ich geholfen hatte, Lady Estora zu retten, kam das Pferd des Todesgottes zu mir und führte mich durch die »weiße Welt«, wo wir uns über Zeit und Raum hinwegsetzten, um die Burg zu erreichen. Dort wurde ich zu einer Ehrenwaffe gemacht und durfte Schwarz tragen, damit ich die Grabkammern betreten durfte, ohne dafür extra ein Grabhüter werden zu müssen und den Rest meines
Lebens damit zu verbringen, die Toten abzustauben. Ich jagte die Schläger durch die königlichen Gräber und tat so, als wäre ich ein Gespenst. Ich kämpfte mit ihnen und rettete ein
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