Pfad der Schatten reiter4
sein Mentor und Lehrer.«
»Der ihm beigebracht hat, zu töten und zu rauben.«
»Ach, Kind, du kannst einfach nicht wissen …«
»Ich bin kein Kind«, sagte Karigan. Nein, nicht nach all der Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht hatte, seit sie eine Grüne Reiterin geworden war, aber das würden die Tanten nie verstehen, selbst wenn sie ihnen jede Einzelheit ihrer Abenteuer erzählt hätte. Egal, was sie aus ihrem Leben machte – sie würden sie immer als ihre kleine Nichte betrachten, die nicht die nötige Reife besaß, um sich mit den Angelegenheiten der Erwachsenen, zum Beispiel der Vergangenheit ihres Vaters, zu befassen.
»Das stimmt wahrscheinlich«, sagte Tante Stace, »aber du benimmst dich wie ein Kind.«
Karigan fiel die Kinnlade herunter.
»Nur ein Kind platzt mit allem heraus, was ihm gerade in den Sinn kommt, ohne zuerst darüber nachzudenken. Ich hätte gedacht, dass du im Dienst des Königs reifer geworden wärst.«
Karigan saß ganz benommen da, weil ihre Tanten ihren Vater in dieser Angelegenheit verteidigten. Es war doch nicht ihre Schuld, dass er Pirat gewesen war.
Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie nahm ihre Botentasche auf, verließ die Küche und ging zur Treppe. Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und als sie ihre Schlafkammer erreichte, warf sie die Tür mit Wucht hinter sich zu.
Wenn ihre Tanten schon nicht ertrugen, dass Karigan Fragen über das Piratenschiff stellte, würden alle fünf Höllen sich öffnen, sobald sie das Bordell zur Sprache brachte.
DIE GOLDJÄGER
Karigan konnte nicht schlafen. Sie warf sich unter ihren Decken herum und hörte dem Wind zu, der an ihrem Fenster rüttelte. Sie war einige Male aufgestanden, um das Feuer zu schüren, aber dann floh sie vor der Kälte zurück unter die Decken, obwohl sie lange Wollschals über ihrem Nachthemd und dicke Strümpfe trug.
Es war aber eigentlich gar nicht der Sturm, der sie wach hielt, sondern die Gedanken an ihren Vater und darüber, dass der Abend ein so schlimmes Ende genommen hatte, noch bevor er richtig begonnen hatte. Sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich von Elaine das Abendessen heraufbringen lassen. Ihre Tanten kamen nicht einmal vorbei, um ihr gute Nacht zu wünschen.
Sie sind böse auf mich, dachte sie, dabei war es ja nicht ihre Schuld, dass ihr Vater auf diesem Piratenschiff gedient hatte. Aber obwohl sie ihr Urteil völlig gerecht fand, wurde sie von einem schlechten Gewissen geplagt, als wäre sie die Schuldige, nur weil sie die Wahrheit über diese leidige Angelegenheit hatte wissen wollen.
In einem Punkt hatten ihre Tanten recht, gab sie nach einigem Überlegen zu: Sie neigte dazu, den Mund aufzumachen, ohne vorher nachzudenken. Sie hätte den ganze Wirrwarr auf viel behutsamere Weise ansprechen können, und dann wären nicht so viele Gefühle verletzt worden. Aber ihr Vater hatte sie im Hinblick auf ihr eigenes Leben allzu sehr
herausgefordert, und sie hatte Gleiches mit Gleichem vergolten.
Das Problem war nur, dass sie ihren Vater liebte – sie liebte ihn sehr und hatte ihn immer bewundert, weil er ein so draufgängerischer, starker und erfolgreicher Mann war. Ein Mann, der ihre Mutter so sehr geliebt hatte, dass er nie wieder heiratete. Als Kind hatte sie stets in seine Fußstapfen treten wollen. Bis die Berufung zur Reiterin alles verändert hatte. Dennoch war er in ihren Augen immer das absolute Idealbild eines Vaters und Kaufmanns geblieben. Bis sie von dem Piratenschiff gehört hatte. Und von dem Bordell.
Von Elaine erfuhr sie, dass er zum Abendessen ebenfalls nicht erschienen war, sondern allein in seinem Büro gegessen hatte. Karigan seufzte. Sie waren einander ähnlicher, als gut für sie war.
Schließlich ertrug sie das unruhige Hin- und Herwälzen im Bett nicht länger, wappnete sich innerlich gegen die Kälte, warf ihre Decken ab und zog sich neben dem Feuer an.
Durch Schneewehen, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichten, stapfte Karigan vom Haus zu den Stallungen hinüber. Ihre Laterne glühte schwach in der Dunkelheit, und große Schneeflocken schlugen dagegen wie Motten. Der Wind riss ihr den Atem von den Lippen.
Als sie den Stall erreichte und eintrat, war dort alles still, und ihr rastloser Geist beruhigte sich ein wenig. Das Glühen ihrer Laterne wuchs und erzeugte ein bisschen goldene Wärme, und sie atmete tief aus, obwohl ihr gar nicht bewusst gewesen war, dass sie den Atem überhaupt angehalten hatte.
Die Pferde ihres Vaters
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