Pfad der Schatten reiter4
keine Lust, mit irgendjemandem zu reden, vom Tanzen ganz zu Schweigen. Sie war gekommen, um ihre Unterstützung für den König zu demonstrieren, aber was nützte das, wenn er gar nicht da war?
Gerade als die Tänzer sich zu einem neuen Tanz formierten, schmetterten die Hörner der Herolde durch den riesigen Raum. Das Orchester und die Gespräche verstummten, und alle hielten in ihren Bewegungen inne.
Aha, dachte sie. Snobistische Unpünktlichkeit.
Schwarz gekleidete Gestalten schlüpften durch andere Eingänge in den Saal, doch die Gäste bemerkten sie gar nicht, denn sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf den Haupteingang des Ballsaals. Die Waffen stellten sich unauffällig an die Wände und versanken in den Schatten. Für Karigan war ihre Anwesenheit eine ebenso deutliche Ankündigung des Königs wie die Fanfaren der Herolde.
Endlich waren der König und seine Verlobte erschienen. Karigan wollte sich abwenden, wollte nicht daran interessiert sein, aber genau wie alle anderen im Ballsaal wurde auch ihr Blick unwiderstehlich vom obersten Treppenabsatz angezogen, wo das königlichen Paars auftreten würde.
DAS SPIEGELBILD
Der Herold Neff erschien auf dem obersten Treppenabsatz und rief: »Ich präsentiere Seine Hoheit König Zacharias, Herr und Klanchef der Provinz Hillander und Hochkönig der zwölf Provinzen, Anführer der Klane von Sacor und Träger des Feuerbrandes, allein den Göttern untertan, und seine Anverlobte, Lady Estora von der Provinz Coutre, erste Tochter des Herrn und der Herrin von Coutre.«
Während Neff fortfuhr, den Rest des königlichen Gefolges vorzustellen, darunter Estoras Schwestern, diverse Cousins und verschiedene Diplomaten, war Karigans Aufmerksamkeit ausschließlich auf die beiden auffälligsten Gestalten des Königs und seiner Königin-in-spe fixiert, die nun ganz vorn auf dem Treppenabsatz standen.
Estora war überwältigend. Das war sie immer. Sie trug Seidenstoffe in Aquamarin und Meergrün, mit weißen Rüschen, die unmittelbar unter dem Saum ihrer Röcke hervorquollen wie die Schaumkronen von Wellen. Tropfenförmige Juwelen, die glitzerten wie die Sonne auf dem Wasser, waren auf ihr Kostüm genäht und in ihr Haar geflochten. Sie hielt eine Stockmaske in Meeresfarben vor ihr Gesicht, die ebenfalls mit Perlen bestickt war, sodass auch sie im Licht glitzerte.
Jemand in Karigans Nähe flüsterte: »Sie ist vollkommen.«
»Wie eine Meeresgöttin«, sagte ein anderer.
Karigan konnte nicht widersprechen.
Der König hielt Lady Estoras Hand, während sie langsam
die Treppe hinunterschritten. Er war in ein tieferes Grün gekleidet, sein Langfrack aus luxuriösem Samt, seine Weste silbergrau. Er trug eine Helmmaske in der schrecklichen Gestalt eines Drachens, der seine Flügel ausbreitet. Die Einzelheiten waren in smaragdgrünem Emaille ausgearbeitet und schimmerten reptilienhaft. Er war eine imposante, geheimnisvolle Figur, und sogar aus der Entfernung spürte Karigan seine gezügelte Macht.
Einen Moment lang stellte sie sich vor, dass es ihre Hand wäre, die er hielt, und dass sie es wäre, die neben ihm einherschritt, aber als das Paar den Tanzboden des Ballsaals erreichte, die versammelten Gäste sich vor ihnen verbeugten und die Damen Hofknickse machten, flüsterte jemand hinter ihr: »Riechen Sie etwas?«
Auf die Frage folgte ein Schnüffeln und dann eine Antwort: »Ja. Etwas … Modriges.«
Karigans Traum löste sich auf. Sie war keine Königin, sondern lediglich die modrige Parodie einer Königin.
Die Gäste wichen zurück, damit König Zacharias und Lady Estora die Tanzfläche betreten konnten. Sie kamen so nah an ihr vorbei, dass Karigan sie hätte berühren können. Sie roch Lady Estoras Lavendelduft und sah ein Lächeln, das die beiden nur füreinander hatten und das für niemanden sonst bestimmt war.
Karigan neigte den Kopf, als sie vorübergingen, lediglich eine weitere Bittstellerin unter vielen.
Als König Zacharias und Lady Estora die Mitte der Tanzfläche erreicht hatten, legte er ihr eine Hand um die Taille, und sie legte eine Hand auf seine Schulter. Ihre führenden Hände waren erhoben, die Handflächen berührten einander. Er sagte etwas, und sie lachte darauf. Mit einem Tusch begann das Orchester wieder zu spielen, und die beiden glitten in den Tanz; sie schwebten fast über dem Boden, als seien sie dazu
geboren, ein Paar zu sein, ihre zierliche Schönheit verbunden mit seiner Kraft, zwei Puzzleteile, die genau zusammenpassten.
Karigan sehnte
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