Pfad der Schatten reiter4
waren weniger rau, die Häfen geschützter. Coutre und die anderen östlichen Provinzen lagen an der wildesten Küste, direkt am offenen Meer, schutzlos seiner Wut preisgegeben, vom übrigen Sacoridien durch das Wingsong-Gebirge und die turbulenten Strömungen um die Schwarzschleier-Halbinsel getrennt. Diese geografische Lage hatte ein stolzes und unabhängiges Volk hervorgebracht.
Mit Erleichterung stellte Karigan fest, dass das Thema des Balls die Kostümierung nicht beeinflusst hatte, soweit sie es erkennen konnte. Sie hätte es nicht ertragen, noch mehr aufzufallen,
als sie es mit ihrem Kostüm ohnehin tat. Während die Kleidung der übrigen Gäste eher dezent und raffiniert war, wiesen die Masken eine Vielfalt von Formen und Farben auf. Manche waren groteske Gesichter mit langen, krummen Nasen, hervorstehenden Kinnpartien und dämonischen Hörnern, oder sie waren von Tieren wie Wildkatzen, Bären und Wölfen inspiriert worden.
Andere waren wunderschöne Kunstwerke aus Blattgold oder Blattsilber, oder bedeckt mit den Federn exotischer Vögel. Auf manchen als Helm gestalteten Masken prangten ausgestopfte Vögel.
Erstaunlich viele Krähen befanden sich unter den dargestellten Vögeln – die Träger waren ganz in Schwarz gekleidete Männer und trugen verschiedene Variationen einer Maske mit schwarzem Schnabel. Dann begriff sie, dass das gar keine Krähen waren, sondern Raben. Raben. Maske. Die Rabenmaske. Offenbar bildeten sie sich ein, jener edle Dieb zu sein, der einst durch die eleganteren Viertel von Sacor-Stadt geschlichen war, um Juwelen zu stehlen und Damen in ihren eigenen Schlafkammern zu verführen. Die wirkliche Rabenmaske hatte ihr Ende gefunden, als sie versucht hatte, Lady Estora zu entführen, und Karigan dachte, dass jeder, der ein solches Kostüm trug, ein unsensibler Lümmel sein musste und nicht intelligent genug war, sich vorstellen zu können, welchen Schrecken ihre Gastgeberin in der Gewalt dieses berüchtigten Diebes erlebt hatte. Zumindest war diese Maske bestimmt nicht dazu geeignet, dem hoffnungsvollen Träger die Gunst der künftigen Königin zu sichern.
Als sie am Rand des Ballsaals entlangschlenderte, erntete sie mehrere neugierige und amüsierte Blicke, und sogar Gelächter. Noch schlimmer war jedoch, dass sie es schwierig fand, den Platz einzuschätzen, den ihre übergroßen Hüfttaschen einnahmen.
»Entschuldigung«, sagte sie zu einem Mann, der eine Kopfmaske mit Geweih trug.
»Es war mir ein Vergnügen, meine Liebe«, antwortete er mit einem sardonischen Grinsen.
Sie ging weiter, ihre Wangen brannten, und sie stieß gegen eine Frau, die eine schöne purpurfarbene Seidenmaske trug. Sie beantwortete Karigans Entschuldigung lediglich mit einem wütenden Blick. Karigan überlegte, dass sie auf ihrer Reise in den Schwarzschleier den Knochenholzstab, den ihr die Waffen zur Selbstverteidigung gegeben hatten, eigentlich gar nicht brauchen würde. Nein, sie könnte einfach diese Seitentaschen tragen und etwaige Feinde mit einem Hüftschwung niedermachen.
Auf ihrem Gang um den Ballsaal fand sie keine Spur von König Zacharias oder Lady Estora, aber unter den Tänzern entdeckte sie etwas, das sie beinahe dazu brachte, ihren mit der Perücke bedeckten Kopf gegen die Wand zu schlagen: Militäroffiziere, die keine Kostüme, sondern lediglich ihre formalen Uniformen mit einfachen Augenmasken trugen. So hätte sie sich auch kleiden können, aber das hatte sie nicht gewusst, und niemand hatte es ihr gesagt. Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass sie sich zumindest nicht mit dem steifen Kragen ihrer Galauniform abquälen musste.
Komödianten mischten sich unter die Gäste, jonglierten, vollführten akrobatische Sprünge oder schluckten Schwerter. Sie waren sogar noch greller kostümiert als Karigan, aber viel fehlte nicht. Ein paar adlige Männer, einer mit einer Wildschweinmaske und der andere mit der eines pelzigen Waschbären, traten ihr in den Weg und blieben stehen, als erwarteten sie, dass sie Jonglierbälle zum Vorschein brachte. Sie schnitt ihnen eine Grimasse und ging um sie herum, wobei sie darauf achtete, genügend Platz für ihre Hüften zu lassen, und fächelte sich mit ihrem Fächer das Gesicht. Bei jedem
Auflachen zuckte sie zusammen, weil sie sicher war, dass es ihr galt.
Es war gut, dass sie beschlossen hatte, sich am Rand des Saals aufzuhalten, denn das wilde Gewoge, der zunehmende Lärm und die durcheinanderwirbelnden Farben waren überwältigend. Sie hatte
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