Pfad der Schatten reiter4
hier um die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft handelte, aber ihr kam es so vor, als sähe die alte Frau sie direkt an.
Großmutter begann zu sprechen, aber Karigan hörte keine Worte. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass Großmutter sie direkt ansprach.
Karigan erinnerte sich an einen Satz, den sie mehr als einmal gehört hatte: Manchmal zeigt der Spiegel in beide Richtungen.
»Nein!«, schrie sie, vom Klang ihrer eigenen Stimme überrascht, und schlug wild um sich, um der Spiegelmaske auszuweichen. Der Bann war gebrochen. Der Akrobat tanzte fort.
Karigan wankte und wäre hingefallen, wurde aber von starken Armen aufgefangen und wieder aufgerichtet. Die Klänge und die Lichter des Maskenballs kehrten zurück wie eine Welle, die über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie atmete einige Male tief durch und fragte sich, wie lange sie wohl von der Maske gebannt gewesen war.
Als sie auf die Stelle starrte, wo der Akrobat in der Menge verschwunden war, fluchte sie innerlich. Und wenn Großmutter wirklich versucht hatte, mit ihr zu sprechen? Wäre Karigan nicht in Panik geraten, hätte sie vielleicht etwas Nützliches aus der Vision erfahren können, zum Beispiel, wo sich Großmutter aufhielt. Eine solche Information wäre für den König
von unvorstellbarem Wert gewesen. Vielleicht sollte sie dem Akrobaten nachgehen und nochmals in seine Maske spähen, um herauszufinden, ob sie …
»Man sollte nie leichtfertig in die Spiegelmaske sehen«, sagte der Herr, der sie gerettet hatte.
Sie war so sehr auf den Spiegel und ihre Visionen konzentriert gewesen, dass sie den hilfsbereiten Herrn fast vergessen hatte. Sie wandte sich zu ihm. Wie alle anderen Adligen im Saal war auch er in nach der aktuellen Mode geschneiderte Gewänder aus feinster Seide und Samt gekleidet. Seine Maske bestand aus Blattgold und war mit fließenden, abstrakten Reliefmustern verziert. Zwei hellgraue Augen betrachteten sie amüsiert. Etwas an diesen Augen kam ihr sehr bekannt vor …
»Spiegelmaske?«
»Ja, sicher. Kennen Sie diese Tradition nicht?«
Karigan runzelte die Stirn. Sie kannte diesen Mann, mit seinen nach hinten gebundenen schwarzen Haaren und den eleganten Gesten. Das Aufblitzen eines roten Rubins an seinem Finger bestätigte es: Lord Amberhill.
»Nein«, antwortete sie und hoffte, dass er sie nicht ebenfalls erkannt hatte. Oh, er würde sich köstlich amüsieren, wenn er wüsste, dass sie in diesem scheußlichen Königin-Wüstina-Kostüm steckte.
»Nun ja, auf einem Maskenball findet man häufig einen Akrobaten mit einer Spiegelmaske. Heutzutage ist es wenig mehr als ein Gesellschaftsspiel, aber unsere Vorfahren nahmen diese Masken viel ernster und benutzten sie bei heiligen Zeremonien. Der Legende nach nutzten die Priester des Altertums sie für Visionen.« Lord Amberhill lachte. »Wahrscheinlich waren sie von vielen starken Getränken so betrunken und von vielen starken Kräutern so benommen, dass sie alles Mögliche sahen.«
Er hätte sich kaum gründlicher irren können, aber Karigan würde sich hüten, ausgerechnet mit ihm darüber zu sprechen.
»Ich frage mich«, sagte Lord Amberhill, »ob die edle Dame vielleicht gerne tanzen würde?«
»Wie bitte? «
Er lächelte. »Dies ist ein Ball, und auf einem Ball tanzen die Leute. Auch muss ich zugeben, dass mich die, sagen wir, wüste Kühnheit Ihres Kostüms fasziniert. Doch vielleicht haben Sie heute Abend schon einen andern Begleiter?« Er sah sich um, als suchte er ihren verloren gegangenen, nicht existenten Begleiter.
Tanzen war das Letzte, worauf Karigan im Augenblick Lust hatte. Die Magie der Maske hatte sie erschüttert. Sie wollte nichts weiter, als in ihre kleine Kammer im Reiterflügel zurückkehren und sich im Bett an Geisterkätzchen kuscheln, und keinesfalls ausgerechnet mit Lord Amberhill tanzen, der ein Talent dafür besaß, sie genau da zu reizen, wo sie am empfindlichsten war.
»Nein, danke«, sagte sie. »Entschuldigt mich.«
Sie wandte sich zum Gehen, aber er legte seine Hand fest auf ihren Arm und beugte sich herunter, um sie anzusprechen. »Sie wollen also einfach wieder verschwinden , meine Dame? Oh ja. Ich erkenne Ihre Stimme. Ihre Augen.« Seine Worte waren so leise, dass nur Karigan sie hören konnte.
Mit plötzlich aufflackernden Wut riss sie ihren Arm weg. »Ihr irrt Euch. Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«
»Ach, wirklich nicht? In dem Theaterstück heiratet Königin Wüstina ein Pferd. Vielleicht einen
Weitere Kostenlose Bücher