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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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Boden.
    » Setz dich, hisaf«, sagte der alte Mann.
    Ich setzte mich. Ich wusste nicht, was ein hisaf war, oder für was sie mich hielten. Ich grub die Nägel meiner einen Hand in den Handteller der andern, um mich aufrecht zu halten. Draußen begann das Schlagen der Trommel, ein langsamer Rhythmus, aber nicht monoton, eine Nachricht, die ich nicht einmal in Ansätzen entschlüsseln konnte.
    Einer nach dem anderen kamen Männer und Frauen in den runden Steinraum. Keiner von ihnen war jung, obwohl auch keiner so alt schien wie der grünäugige Anführer. Ich blickte jeden Menschen begierig an, aber keiner von ihnen war Cecilia. Und doch schien es mir, als könne ich etwas von ihr im Kinn jenes Mädchens, in den Augen jenes jungen Mannes erkennen. Jeder kam zu mir, kniete sich hin und sagte in seinem grobschlächtigen Akzent: » Willkommen, hisaf.«
    Immer mehr Leute trafen ein, bis der Raum voll war, warm von ihrer Körperhitze und schwer von ihrem Schweigen. Diese Leute unterschieden sich von jenen, die ich mein ganzes Leben lang im Königinnenreich gekannt hatte: von den Bauern auf den Erntefesten, von den Gastwirten und den Festbesuchern, den Soldaten und Höflingen des Palastes. Sie waren auch anders als Lord Soleks wilde Krieger mit ihrem Lächeln und ihrem Gesang, ihrer rücksichtslosen Disziplin. Die Leute hier saßen irgendwie schwermütig da, sagten nichts, warteten stur.
    Sie erinnerten mich an die Toten.
    Als es schien, dass im Raum niemand mehr Platz finden konnte, kam der Trommler von draußen herein. Er stellte seine Trommel auf eine Bank und ging wieder hinaus. Der alte Mann erhob sich. Er sprach langsam, und trotz seines Akzents verstand ich den Großteil seiner Worte.
    » Hier kommt ein hisaf. Es ist für sehr lange Zeit keiner mehr bei uns gewesen. Er wurde nicht im Seelenrankenmoor geboren, er ist nie im Seelenrankenmoor gewesen, aber das Seelenrankenmoor ist seine Heimat. Er ist willkommen. Bald wird er eine Reise ins …«
    Ich konnte das Wort nicht verstehen, aber natürlich meinte er das Land der Toten. Das war schließlich das, was jeder von mir wollte, überall.
    Der alte Mann endete: » Aber erst wird er essen.«
    Essen! Mein leerer Magen ließ ein lautes Knurren hören. Bestimmt würde eine Mahlzeit meinem Schwindelgefühl ein Ende setzen. Der vollgestopfte Raum war wenig hilfreich; ich schwankte zwischen einer erhöhten Wahrnehmung einer jeden Einzelheit und plötzlichen Anfällen von Schläfrigkeit. Im Dämmerlicht warf jemand eine Handvoll getrockneter Blätter auf das Feuer, und es flammte auf. Ein süßer, stechender Geruch erfüllte den Raum.
    Die Eingangsklappe ging auf, und eine kurze Böe kalter Luft drang herein. Junge Männer und Frauen traten ein, alle in meinem Alter, in gewebte weiße Roben gekleidet. Sie trugen große Schüsseln mit heißem Fleisch. Alle waren sie ansehnlich, und ich hielt begierig nach Cecilia Ausschau. Sie war nicht bei ihnen, obwohl das Mädchen, das mir ihre Schüssel hinhielt, die gleichen grünen Augen und das gleiche braune Haar hatte. Sogar in ihrem Lächeln lag etwas von Cecilia. Ich erwiderte das Lächeln und nahm wie alle anderen auch ein Stück Fleisch mit den Fingern. Es schmeckte fettig und saftig, ganz anders als alles, was ich zuvor gegessen hatte, aber es war wunderbar.
    Wieder warf jemand etwas in das Feuer, und es flammte mit süßem Geruch auf.
    Schläfrigkeit überkam mich, verstärkt durch das gute Essen. Beinahe schlief ich ein, aber dann war das wachsame Schwindelgefühl wieder da, und wieder schien alles außerordentlich scharf und klar. Ich hätte mich an dem Fell schneiden können, an den Binsenfackeln, an der Luft selbst. Undeutlich wurde mir bewusst, dass das, was immer sie da ins Feuer geworfen hatten, irgendeine Droge enthalten musste. Die jungen Männer und Frauen verließen den Raum wieder.
    Es war alles so seltsam. Und wenn Cecilia wirklich von hier gekommen war, um wie viel seltsamer musste ihr da der Hof des Königinnenreichs erschienen sein! Ich verstand nun etwas besser, dass sie dauernd an der Grenze zur Hysterie gestanden hatte, und auch ihren Drang nach immer mehr Aufregung, Gelächter, Tanz, um das Gefühl zu vertreiben, dass sie niemals richtig dazugehören würde. Ich hatte auch niemals richtig dazugehört, nirgends. Dadurch entstand ein Band zwischen uns.
    Wo war sie? Bestimmt würden sie sie bald hereinbringen …
    Der Alte erhob sich. » Wir sind ein altes Volk, und wir haben Kraft von den Seelen anderer genommen.

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