Pfad der Seelen
Blitze, die den Himmel zerrissen. Ich packte ihren zierlichen Körper und schüttelte ihn, wie ein Hund eine Ratte schüttelt.
» Ich nehme keine › Kraft‹ von irgendjemandem, du böses altes Weib! Es gibt keine Kraft, die man den Toten nehmen könnte, und es gibt kein ewiges Leben! Du bist tot, tot, tot, wie alle anderen hier! Du und all die anderen Mörder hier im Seelenrankenmoor haben Fremde umsonst getötet! Ihr habt Cecilia getötet, oder nicht? Und alles um einer dummen und sinnlosen Zeremonie willen, die euch nichts gebracht hat! Nichts! Nichts! Es gibt keinen Weg, auf dem man von den Seelen der Toten irgendetwas bekommen könnte!«
Sie starrte mich ohne Furcht an. Sie sagte einfach: » Du liegst falsch, Junge. Wir können die Kraft bekommen. Von den Seelen der Auswärtsgeborenen. Von den Verrätern, die gegangen sind. Du hast es auch getan, letzte Nacht. Du hast jene Kraft auf dem alten und wahren Weg erlangt, als du das Fleisch bei dem Festmahl gegessen hast.«
Ihr Blick schweifte von mir zu Cecilia.
» Ihres.«
26
Ich hatte geglaubt, ich wüsste, was Entsetzen war. Ich hatte mich geirrt.
Die junge Frau – diese Grünäugige – mit der Schüssel voller Essen, und das Fleisch in der Schüssel, so saftig und fettig, mit einem solch ungewohnten Geschmack …
Ich konnte nichts sagen. Ich konnte mich nicht einmal übergeben. Aber ich konnte töten, und ich schlug mit beiden Fäusten auf die alte Frau ein, trat mit meinen Stiefeln nach ihr, ließ ihren Kopf immer wieder auf den Boden knallen. Sie sah mich erst verblüfft und dann zornig an, äußerte aber weder Schmerz noch Angst. Ich konnte ihr nicht wehtun. Sie fühlte sich unter meinen Händen lebendig an, aber sie war es nicht. Nur ich war am Leben, trug die monströse Gewissheit dessen, was ich getan hatte, in mir.
Cecilia …
Ich hatte …
» Fort mit dir, Junge!«, geiferte mich die alte Frau schließlich an, kam auf die Füße und marschierte von dannen. Ein paar Fuß entfernt setzte sie sich auf einen Stein und versenkte sich in den ruhigen Dämmerzustand der Toten.
» Cecilia«, sagte ich und nahm ihre Hände in meine, » ich wusste es nicht, es tut mir leid, es tut mir so leid, ich wusste es nicht …«
Sie konnte mich nicht hören.
Und dann übergab ich mich, aber ich konnte den Schrecken nicht aus meinem Bauch vertreiben. Er würde dort hausen bis ans Ende meiner Tage. In meinem Bauch, in meinem Herzen, in meinen Eingeweiden. » Sie nehmen die Seelen der Toten«, hatte Maggie vor all jenen Monaten behauptet, aber sie hatte nicht gesagt, auf welche Weise. Und ich hatte ihr ohnehin nicht geglaubt. Ich war ein Narr. Ich war hundertmal ein Narr, und ich hatte von dem Fleisch gegessen, von …
Ich musste fort vom Seelenrankenmoor. Ich konnte nicht hierbleiben, um nach meiner Mutter zu suchen, ich konnte um nichts auf der Welt hierbleiben, keine Sekunde länger. Das Bedürfnis, sofort zu gehen, war das Einzige, was mich rettete. Es war wenigstens etwas. Es war eine Handlung, erforderte, dass ich Beine und Rücken bewegte. Ich packte Cecilias Hand und zog sie vorwärts. Wir stolperten beide über den bebenden Boden, während über uns die Blitze zuckten, bis ich außer Atem war. Keuchend und schnaufend rannte ich weiter.
Aber selbst dann wusste ich, dass ich dem Seelenrankenmoor nicht entkommen konnte.
Als ich nicht mehr weiterlaufen konnte, ging ich. Ich war bereits einige lange, wahnsinnige Stunden unterwegs. Ich holte mir blaue Flecken bei meinen Stürzen, bis ich schmutzig und verschwitzt und schwach war. Cecilia bekam keinen Kratzer ab – sie blieb sauber und leistete keinen Widerstand, ihr Haar duftete wie Regenwasser. Sie würde so lange gehen, wie ich sie führte, und nicht wissen, dass sie sich bewegte.
Ich versuchte weiterhin, sie zu wecken, tat alles, was ich konnte. Ich küsste sie, schüttelte sie und einmal, als der Ärger zu groß war, dass ich ihn ertragen konnte, warf ich sie zu Boden. Sie wachte nicht auf. Über mir dräute weiterhin der Sturm, ohne je loszubrechen. Der Boden bebte, ohne je zu bersten. Der Wind wehte, ohne je Regen zu bringen. Und Cecilia und ich gingen nach Norden, bis ich die Mulde und den hohen, dünnen Wasserfall erkannte, an dem Jees Hütte im Land der Lebenden stand. Natürlich war die Hütte nicht da, und die Kuhle war mit den üblichen Toten besetzt. Aber es war auf der anderen Seite der Grenze. Wir hatten das Seelenrankenmoor verlassen und befanden uns in den Unbeanspruchten
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