Pfad der Seelen
fallen, wühlte in ihrem Umhang und ihrem Kleid, sogar in ihren Schuhen, als könnte ich dort eine Spur von ihr finden. Es gab nichts, nicht einmal eine Strähne ihres honigfarbenen Haars. Nicht einmal einen Fingernagel. Alles war mit ihr verschwunden – wohin?
Ich heulte wie ein Tier, aber ich zögerte nicht. Das Feuer war mir am nächsten; ich benutzte das Feuer. Indem ich meine Linke in die Glut stieß und noch immer ihren Namen rief, betrat ich den Pfad der Seelen.
Sie war nicht dort.
Der Himmel bellte und knurrte, und Regen ergoss sich auf das Land der Toten; der Boden bebte; die Toten saßen ruhig inmitten des Aufruhrs. Aber ich konnte Cecilia nicht finden. Ich rüttelte alte Frauen wach und schüttelte sie, verlangte Auskünfte. Ich kippte Felsen und Büsche und Körper um, während ich in dem peitschenden Sturm auf die Suche ging. Ich blickte in Dickichte, in Haine, hinter Felsbrocken, in Schluchten, wo die Felswände drohten, herabzustürzen und mich zu zermalmen. Sie war nicht dort.
Nicht im Land der Lebenden, nicht im Land der Toten.
» Er war einfach weg«, hatte die Wirtin über Kauz erzählt.
Ich warf den Kopf nach hinten und heulte den stürmischen Himmel an. Ich drosch mit den Händen auf einen Felsen ein. Ich hatte sie zurückgebracht, war so kurz davor gewesen, sie zu retten! Und jetzt …
Man konnte den Tod nicht betrügen. Nicht länger als ein paar Wochen, was überhaupt keine Zeit war. Der Tod gewann immer.
Es war Morgen im Königinnenreich, als ich schließlich vom Pfad der Seelen zurückkehrte, ein frischer Morgen mit Vogelgezwitscher und einer goldenen Dämmerung. Das Feuer war schon lange erloschen. Ich saß daneben, zu gepeinigt, um mich um meine verbrannte Hand zu kümmern, zu gepeinigt sogar, um zu schluchzen.
Cecilia war fort. Es gab sie nicht mehr, nirgends mehr, in keiner Gestalt. Worauf auch immer die ruhigen Toten warteten, dort in jenem anderen Land, Cecilia würde es nie herausfinden. Dies war also der Grund, weshalb die hisaf nicht mit ihren geliebten Verstorbenen den Pfad der Seelen betraten. Indem ich meine Lady zurückgebracht hatte, hatte ich sie vollständiger getötet, als die Kannibalen des Seelenrankenmoors es getan hatten. Ich, Roger Kilbourne, der hisaf.
Roger Kilbourne, der Narr, der allen Narren ein Ende macht.
29
Ich hatte vorher nicht gewusst, dass es ein Schicksal gab, das schlimmer war als der Tod, oder Orte, die schlimmer als das Land der Toten waren. Jetzt wusste ich es.
Es ist schwer für mich, mich daran zu erinnern, was ich an diesem Morgen der Verzweiflung tat, oder an diesem Nachmittag, diesem Abend. Ich weiß, dass ich nichts aß, denn es gab nichts zu essen. Ich weiß, dass ich mich nicht um meine verbrannte Hand kümmerte, denn meine Finger wurden schwarz und warfen Blasen. Die Blasen platzten auf, Eiter und Blut sickerten heraus. Saß ich neben dem erloschenen Feuer, all diese langen Stunden über betäubt? Habe ich geschrien oder geweint? Ich weiß es nicht und werde es vielleicht nie erfahren. Diese Stunden sind mir genauso abhandengekommen wie Cecilia, an jenen selben Ort der Qual und äußersten Hoffnungslosigkeit entschwunden.
Ich hatte sie getötet. Dafür musste ich sterben.
Das war der Gedanke, der mich zurück ins Leben brachte, wenn man das Leben nennen konnte. Ich griff nach dem Gedanken, als könnte er mich retten. Ich konnte sterben, und dann würde mich im Land der Toten das Vergessen überkommen. Ich würde wie die übrigen Toten sein, ruhig und ohne Verstand und frei von Schmerz, würde still in jenem stillen Land sitzen …
Nur dass das Land der Toten nicht länger still war. Und nicht alle Toten warteten in gedankenloser Ruhe. Die Soldaten der Blauen. Cat Starling. Sie hatten nicht geglaubt, dass sie tot waren, und daher ihr früheres Selbst behalten. Und ich wusste auch, dass der Tod nicht endgültig war, dass es möglich war, auf der anderen Seite des Grabes zu gehen, zu denken und zu leben. Würde also ich, ein hisaf, bei Bewusstsein bleiben – vielleicht für alle Ewigkeit?
Eine Ewigkeit, um mich daran zu erinnern, was ich Cecilia angetan hatte. Erinnerung hier und Erinnerung dort. Kein Unterschied.
Der Tod war kein Ausweg. Nicht für mich.
Dennoch glaube ich, dass ich es vielleicht getan hätte, nur um irgendetwas zu tun, ganz gleich was, um die Verzweiflung zu bekämpfen, die mir unerträglich war. Meine Eingeweide und meine Leber krochen durch meinen Körper, versuchten, von mir zu fliehen. Meine Augen
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