Pfad der Seelen
Horizont. Eine blendend gelbe Sonne kam in Sicht. Ich ließ planlos ein paar Steine über das ruhige Wasser springen, dann ging ich zurück zur Herberge und bezahlte einen wertvollen Penny für einen Krug Bier im Schankraum. Es war zu früh für Bier, aber ich brauchte es. Die Frau des Wirts bediente mich und setzte sich dann ungebeten mir gegenüber an den Tisch und legte ihre rauen Ellbogen auf die Tischplatte.
» Woher kommst du denn, Freund?«
» Von vielen Orten«, sagte ich müde. Ich war nicht in der Stimmung für eine Unterhaltung.
» Und wohin gehst du?«
Ich antwortete nicht.
Sie musterte mich. Sie war nicht hübsch, hatte aber trotzdem eine gesunde Lebendigkeit wie ein starkes junges Tier. Eine lebhafte Klugheit blitzte in ihren kleinen braunen Augen auf. » Ich frage, weil wir hier nicht viele Besucher haben, nicht so früh im Jahr. Nein, gar nicht viele Besucher.«
» Das kann ich mir vorstellen.« Geh weg.
» Ich frage mich, ob du den Kerl kennst, der vor nicht einmal zwei Tagen hier war.«
» Nein.«
» Das ist aber zu schade. Ich muss jemandem seine Habseligkeiten übergeben.«
Ich nippte an meinem Bier und blickte betont zur Seite. Ich hatte genug von plappernden Frauen.
» Schau mal, ich zeig ’ s dir.« Sie sprang auf, öffnete eine Truhe in einer Ecke des Raums und zog ein Bündel Lumpen hervor. Darauf lag ein Messer mit einer krummen Klinge und einem Holzgriff, der wie ein Fisch mit offenem Maul geschnitzt war.
Das Messer von Kauz.
» Ah, ich seh schon, dass du ihn doch kennst«, sagte die Frau.
» Vielleicht. Was … was ist mit ihm passiert?«
Sie zuckte die Schultern. » Das weiß keiner. Er hat sich ein Zimmer oben genommen – das Zimmer, das ihr jetzt habt – und darauf gewartet, dass die Flotte wieder anlegt. Damals waren sie schon ein paar Tage draußen. Und er ist nicht mehr runtergekommen. Schließlich habe ich die Tür aufgesperrt, und er war weg. Seine Kleider lagen auf dem Bett und das Messer unter dem Kissen.«
» Seine … Kleider?«
» Jawohl. Seine einzigen Kleider, und sonst ist nichts gestohlen worden. Die Tür war noch von innen verriegelt, aber er war einfach weg. Jemand schuldet mir noch was für seine Rechnung. Aber – wie ist er so ganz nackt rausgekommen, und wohin wollte er?«
Das war wirklich die Frage! Und auf einmal kam mir der Schankraum kalt vor, das Bier ohne Geschmack. Mein Magen verkrampfte sich. Kauz hätte nicht durch das einzige Fenster der Kammer dort oben gepasst. Die Frau hatte gerade gesagt, dass die Tür von innen verriegelt gewesen war. Wie also …
Wenn Kauz irgendwie ins Land der Toten zurückgekehrt war … oder vielleicht zurückgeholt worden war? Dann wären seine Kleider und sein Messer mit ihm gegangen. Die Toten betraten den Pfad der Seelen nicht nackt.
Nein, die ganze Geschichte war eine Lüge, eine List der Wirtin, um einen Fremden dazu zu bringen zu bezahlen, was Kauz ihr schuldete. Mein Magen entkrampfte sich wieder, und ich sagte: » Ich habe den Mann nur flüchtig gekannt. Ich schulde dir nichts.« Aber ich stand auf, ließ mein Bier stehen und stieg die Stufen zur Schlafkammer empor.
Cecilia schlief noch immer. Ich starrte das winzige Fenster an, die starke Tür. Vor zwei Tagen, hatte die Frau gesagt. Kauz hätte damit etwa … wie viele Tage im Land der Lebenden verbracht? Ich hatte mein Zeitgespür verloren.
Maggie hätte es gewusst.
Aber es spielte eigentlich keine Rolle. Ich setzte mich in den einzigen Stuhl der Kammer und betrachtete Cecilia. Sie hatte letzten Abend ihr Haar gewaschen – ein aufwendiges Unterfangen, das kannenweise heißes Wasser erfordert hatte, von mir die Stufen heraufgeschleppt – und nun breiteten sich ihre Locken sauber und glänzend auf dem rauen Baumwollkissen aus. Ihre Augenlider flatterten – durchsichtig, schwach bläulich. Ihre starke, junge Kehle lag bloß da, und die obere Hälfte einer kleinen Brust ragte aus ihrem Gewand hervor. Ich hatte diese Brust nie berührt, würde sie nie berühren. Cecilia sah schöner aus als jemals zuvor, und ausgesprochen begehrenswert. Aber ich spürte kein Begehren.
Was werde ich mit dir anstellen?
Ich betrachtete sie sehr lange. Dann weckte ich sie auf; ich hatte kein Geld mehr, um diese Kammer für eine weitere Nacht zu bezahlen. Ich konnte kaum das Frühstück bezahlen. Sie murrte nicht, aber ihr hübsches Gesicht wirkte trotzig. Ich ging zum Stall, tränkte den Esel und schirrte ihn an, und dieser murrte sehr wohl. Nach einem wortlosen,
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