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Pfad der Seelen

Pfad der Seelen

Titel: Pfad der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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hier.«
    Er fluchte und packte den Mann, der ihm am nächsten stand. Ich griff nach dem Hauptmann, biss mir so fest in die Zunge, dass mir Blut in den Mund sprudelte, und zwang mich, vom Pfad der Seelen zurückzukehren, mit ein paar Hundert Männern, die wie Gewichte an mir hingen, wie Blutegel.
    Der Himmel kreischte und brach auf. Etwas fuhr brüllend aus dem Riss, etwas Helles und Schreckliches, gerade als der Boden unter meinen Füßen nachgab. Ich fiel. Ich wurde von der leuchtenden Monstrosität aus dem Himmel verschlungen …
    Und dann war ich im Grab, an jenem Ort dazwischen, mit Erde im Mund und Würmern in den Augen, dem Ort der lebendigen Gefangenschaft in meinem verrotteten Körper … Und diesmal konnte ich mich nicht befreien. Das Gewicht von Hunderten von Männern zog an mir, sie krallten und zerrten. Wir konnten alle für immer hierbleiben, gefangen, weder tot noch lebendig. Eine Ewigkeit im Grab, mit Würmern in den Augen und Kälte in den Knochen …
    Oh, was hatte ich getan?
    Und noch immer hielt uns die Erde fest, die Barriere zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten. Das Grab hielt mein verfaulendes Fleisch gefangen, bis der Tod – der echte – mir willkommen gewesen wäre. Ich würde einfach aufgeben, kapitulieren, mich sterben lassen …
    Nein. Ich musste Maggie retten. Mit einer letzten großen Willensanstrengung konzentrierte ich mich noch einmal darauf, Maggie zu erreichen. Geh den Pfad der Seelen zurück, geh den Pfad der Seelen zurück, geh den Pfad der Seelen zurück für Maggie …
    Ich fiel neben dem ruhigen, blauen Fluss ins Gras.
    Verzweifelt schnappte ich nach Luft, die Soldaten wogten und stöhnten neben mir. Empfindungen kehrten zurück: Meine Arme waren aus Fleisch, nicht aus verrotteten Knochen; durch meine Augen kamen Bilder, keine Maden; meine Zunge konnte sich bewegen, wurde nicht mehr von stinkender Erde erstickt. Das Gewicht der Männer zerrte nicht mehr an mir. Es schien mir jetzt, dass ich, wenn es nur einer mehr gewesen wäre, diesen schrecklichen Weg auf dem Pfad der Seelen nicht hätte hinter mich bringen können. Niemals wieder!
    Als ich aufstehen konnte, sah ich mich nach Jee um, der nicht da war. Er war versteckt geblieben, wie ich es ihm befohlen hatte. Sobald er sich erholt hatte, bellte der Hauptmann Befehle, und wenig später befand sich die Armee in Schlachtordnung, mit gezogenen Schwertern, die Schilde bereit. Er warf mir einen Blick zu.
    » Danke, Junge. Jetzt geh.«
    Ein einziger Blick kann Welten verändern. Ehe der Blick das Hauptmanns zu seinen Männern zurückgekehrt war, hatte er sich von Dankbarkeit in Ekel und dann in Abscheu verwandelt. Ich hatte ihn aus dem Hexenland gebracht, aber das bedeutete, dass ich eine Hexe war, und Hexen musste man fürchten. Jagen. Verbrennen. Dieser Widerspruch war mehr, als der Hauptmann verarbeiten konnte. Er wünschte mich fort, damit er nicht in diesen trügerischen Meeren der Moral navigieren musste.
    Ich ging zurück zu den Bäumen, bis ich mit dem Rücken an dem Dickicht stand, in dem Jee verborgen lag. Die Blauen fingen an, auf den Fluss zuzumarschieren. Von unten drang ein Geräusch zu mir herauf. Es hätte Jee sein können, der » Roger?« hauchte. Oder auch das Rascheln eines Kaninchens oder eines Fuchses. Oder einer Ratte.
    All jene Soldaten würden noch einmal sterben. Wie bei Kauz und Cecilia waren ihre erneuerten Leben eine Illusion, nur vorübergehend. In vierzehn Tagen – ich hatte schließlich in Gedanken ausgerechnet, wie viele Tage vergangen waren – würden sie verschwinden, würden sich auf schreckliche Weise in Luft auflösen, wie Holz, das zu Rauch wurde. Man konnte Rauch nicht wieder zu Ahorn- oder Kirschholz machen, oder was immer es gewesen war. Und dennoch, wenn ich diese Gräuel nicht vollbracht hätte, was wäre dann im Land der Toten aus diesen Soldaten geworden? Sie hausten dort nicht wie die übrigen Toten, die in dämmernder Ruhe abwarteten. Sie waren bereits ruhelos, gelangweilt, verzweifelt. Was wäre in zehn Jahren aus ihnen geworden, in zwanzig Jahren, in einem Jahrhundert? Ich hatte Tote gesehen, die – nach ihrer Kleidung zu urteilen – noch viel länger in jenem anderen Land waren. Und in der Zwischenzeit hätte die Anwesenheit dieser ruhelosen Soldaten, die weder tot noch lebendig waren, jene friedliche Landschaft jenseits des Grabes weiter zerstört.
    Mein Werk, alles mein Werk. Aber dies war nicht schlimmer als der Rest. Als die Soldaten auf die Hauptstadt

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