Pfad der Seelen
hierher ins Hexenland zu bringen. Ich habe gesehen, wie sie es macht! Sie hat ihren sechsten Finger gekrümmt und ihre Bannsprüche gesungen und … und ist durch die Luft geflogen, um uns alle herzubringen! Mich auch, weil ich es gewagt habe, Narrenreime zu dichten, die ihr missfallen haben … Und sie hat Königin Eleanor behext! Seht, die Königin atmet und kann doch nicht sprechen, nicht sehen …«
Der Soldat schrie vor abergläubischer Angst und in äußerstem Zorn auf. Er schwenkte sein gezogenes Schwert, aber es gab niemanden, den er aufspießen konnte – bis neben dem Fluss drei grüne Soldaten auftauchten.
Im Palast wurde offenbar gekämpft. Männer starben. Und jetzt würde auch hier gekämpft werden.
Die beiden Blauen rannten auf die Grünen zu, die ihre Waffen zogen und einen Gegenangriff begannen. Und ich sah, was ich nie für möglich gehalten hätte: Die Toten bekämpften sich gegenseitig, um sich zu töten. Nur geschah es nicht, konnte gar nicht geschehen. Ein Soldat errang einen Vorteil und schlug brutal nach dem Kopf des anderen. Die Klinge drang mitten durch das Fleisch und den Schädelknochen, und der Mann stand nach wie vor unverletzt auf den Beinen.
Das ließ sie alle innehalten.
Ich wagte es nicht, dichter heranzugehen. Mich konnten sie verletzen, ihnen würde nichts passieren. Von meinem Platz neben der Königin aus rief ich: » Im Hexenland kann niemand sterben. Seht nur, wie viele die Hexen schon hergebracht haben! Und sie kann uns zurückholen, wann immer ihr es beliebt … man hat mir das schon früher angetan!«
Die blauen Soldaten blickten sich wild um. Die drei Grünen hatten sich bereits außer Hörweite zurückgezogen; bald würden sie ruhig und reglos sein. Die Blauen verstanden es nicht, aber sie glaubten mir. Im Angesicht des Sinnlosen greifen Menschen nach jedem Glauben, der einen Sinn verspricht.
Der weniger Schnelle der beiden Blauen sagte unsicher: » Du bist schon einmal hier gewesen, Narr?«
» Ja. Komm her, zu deiner Königin – nur du!«
Er kam. Ich sagte sehr leise zu ihm: » Was ist mit ihr geschehen? Hat sie etwas getrunken oder gegessen, oder …?«
» Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei. Aber mein Hauptmann hat gesagt, dass sie sich an den Bauch gefasst und › Gift! Meine Tochter!‹ geschrien hat. Aber du sagst, es ist gar kein Gift gewesen, sondern Hexenwerk? Ich weiß nicht …«
» Es war Hexenwerk«, sagte ich fest. » Sieh sie dir an! Sie ist nicht tot, sie atmet und sitzt dort, und auch du gehst und redest … Du bist ins Hexenland verbannt, bis sie dich zurückholen. Und genauso ergeht es den anderen.« Zwei weitere Blaue waren im Fluss erschienen und stolperten tropfend ans Ufer. » Du musst es ihnen sagen! Ich hoffe, ich werde nicht …« Absichtlich unterbrach ich meinen Satz, biss mir fest auf die Zunge und verließ den Pfad der Seelen.
Blut rann mir von der Zunge in den Mund. Ich krümmte mich auf dem Kaminvorleger zusammen und weinte dann plötzlich. Aber weinte ich vor Schmerz oder wegen meines Wissens?
In Wahrheit hatte ich kein sicheres Wissen. Die alte Königin hatte geschrien, dass sie vergiftet worden war, aber das hätte sie vielleicht auch getan, wenn Herzversagen ihren Tod verursacht hätte. Sie hätte sich trotzdem an den Bauch fassen und glauben können, dass ihre Tochter sie vergiftet hatte, ganz gleich, wie die Tatsachen aussahen. Und das » Ja«, das die alte Königin mir gegenüber geäußert hatte – das Letzte, was sie je zu jemandem sagen würde –, hätte alles bedeuten können.
Aber ich glaubte, dass Königin Eleanor meine Frage beantwortet hatte: Ja. Ja, sie war ermordet worden, und Königin Caroline war genau das, was die Gerüchte sie genannt hatten: eine Giftmischerin.
Die Königin ist tot. Lange lebe die Königin.
Ich wusste nicht, wie lange ich vor dem Kamin lag, meine Gedanken ein einziges Durcheinander. Königin Caroline hatte stets so viele widersprüchliche Gefühle in mir hervorgerufen: Angst. Bewunderung. Zorn. Respekt. Inzwischen hatten sich meine Gefühle für die Königin auf eines verringert: dem Wunsch, ihre schützende Hand auf mir, zu überleben.
Schließlich stand ich auf und wusch mir das Blut mit kühlendem Wasser aus dem Mund. Irgendwann brüllte Lord Roberts Stimme auf der anderen Seite der Tür: » Narr! Mach auf!«
Ich entriegelte die Tür. Er und Königin Caroline standen davor. Ihre Hofdamen und Höflinge hatten sich am anderen Ende der äußeren Kammer versammelt, einige sahen
Weitere Kostenlose Bücher