Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
weiß, wo wir eine Droschke bekommen.« Er nahm ihren Arm, und sie machten sich mit eiligen Schritten auf den Weg.
»Um diese Stunde?«
Er nickte. »Es ist ganz in der Nähe. Dort ist ein … geschäftliches Etablissement.«
»Vor welch einem Geschäft warten zu dieser Stunde Mietkutschen?«
»Vor einem sehr diskreten. Und mehr brauchst du darüber nicht zu wissen.«
»Oh«, murmelte sie. »Ich verstehe.«
Eine Viertelstunde später erreichten sie ihr Ziel, und wie Nate gesagt hatte, warteten dort mehrere Droschken auf Fahrgäste. Seine Frage sparte er sich auf, bis sie im Wagen saßen und der Kutscher losgefahren war.
»Denkst du, das Siegel ist in deinem Haus?«
Sie nickte. »Wahrscheinlich war es die ganze Zeit dort.«
»Warum?«
»Das Siegel, das du mir gestern Abend zeigtest, das Quinton hatte.« Sie beugte sich zu ihm und flüsterte aufgeregt: »Es ist dasselbe, das Enrico dem Komitee vorlegte, das jemand gegen seines ausgetauscht hatte.«
»Bist du sicher?«
Sie zögerte. »Ja, bin ich.«
»Also glaubst du …«
»Enrico muss derjenige gewesen sein, der es Quinton stahl. Ihm wird die Ironie gefallen haben, sein Siegel gegen das auszutauschen, das man ihm gab, um ihn über den Diebstahl hinwegzutäuschen. Als wäre der Kreis geschlossen.«
»Aber warum hatte er dir nicht erzählt, dass er das Ambropia-Siegel wiederbekommen hatte?«
»Ich bin nicht sicher, dass er es nicht getan hat.« Sie überlegte kurz. »Du hast seinen letzten Brief gelesen. Er war wirr und aufgebracht, aber da war ein seltsam triumphierender Ton in allem. Ich achtete gar nicht richtig darauf. Aber jetzt … Ja, jetzt ergibt alles einen Sinn.«
Die Droschke hielt vor ihrem Haus, und Nate bat den Kutscher, auf sie zu warten. Derweil lief Gabriella schon die Vordertreppe hinauf, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete. Es ging ein wenig zu leicht, wie Nate fand, doch er ignorierte sein Unbehagen. Gewiss lag es nur daran, dass er spät in der Nacht ein ihm unbekanntes Haus betrat.
Gabriella ging hinein und wandte sich zu ihm um. »Florence und Miriam wurden weggerufen, also ist niemand hier«, sagte sie, zündete die Lampe am Eingang an und schritt voraus zu einem Raum, der ihr Salon sein musste, aus dem sie eine zweite Lampe holte. Nachdem sie die ebenfalls entzündet hatte, stieg sie die Treppe hinauf. Nate folgte ihr, wurde aber sein Unbehagen nicht los.
Oben an der zweiten Treppe bog sie in einen schmalen Korridor und öffnete eine Tür.
»Halt die bitte«, sagte sie und reichte ihm die Lampe.
Nate blickte sich um. Sie waren in einem Schlafzimmer, das mit nur einem Bett und einer Kommode sehr spärlich möbliert war. Eine kleine Holzkiste stand in einer Ecke. Gabriella ging zu der Kiste und schob den Deckel ab, der klappernd zu Boden fiel. Das Klappern hallte durch das dunkle Haus.
»Hast du etwas gehört?«, fragte Nate stirnrunzelnd.
»Nein.« Sie blickte auf die Kiste.
»Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, murmelte er und horchte angestrengt. Wahrscheinlich war es doch nur der Lärm des Kistendeckels gewesen, der durchs Haus hallte. Trotzdem wollte er schwören, dass da noch ein anderes Geräusch gewesen war.
»Diese Kiste wurde mir nach Enricos Tod geschickt. Wir öffneten sie, aber …« Sie verstummte für einen Moment. Wie auch immer Enricos Charakter gewesen war, er war immer noch ihr Bruder, und sie hatte ihn offensichtlich geliebt. »Aber ich habe noch nicht hineingesehen.«
Sie atmete hörbar ein und kniete sich vor die Kiste. Nate hielt die Lampe so, dass sie besseres Licht hatte, und weiter weg von seiner Nase. Sie roch seltsam rauchig, als wäre sie schon länger nicht benutzt worden.
Gabriella begann, die Überbleibsel von Enrico Montinis Leben auszupacken: einige Kleidungsstücke, mehrere Bücher und gebundene Notizbücher, ein paar interessante, wenngleich nicht sonderlich wichtige Artefakte, ein ausgetragenes Paar Stiefel. Dann stellte sie die Stiefel hin, hob einen hoch und sah Nate an.
»Was?« Er hielt die Lampe dichter zu ihr.
Sie griff in den Stiefel und zog ein Stoffbündel daraus hervor. Nachdem sie den Stiefel wieder hingestellt hatte, wollte sie das Bündel aufwickeln, nur zitterten ihre Hände zu sehr. Sie verzog das Gesicht. »Ich entsinne mich nicht, dass meine Hände vor gestern jemals gezittert hätten.«
»Warte.« Er nahm ihre freie Hand und half ihr auf, bevor er die Lampe gegen das Bündel tauschte. Rasch wickelte er das Tuch auf und enthüllte ein sehr altes
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