Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Schreibtisch. »Es hätte uns eine Menge Mühe erspart.«
»Doch letztlich wäre nichts anders. Und, ja, er hätte es uns erzählen können.« Nate seufzte. »Erzählen müssen.«
»Vertraust du ihm noch?«
»Natürlich vertraue ich ihm. Er würde mich nie belügen.«
»Weißt du das genau?«
»Ich hege nicht den geringsten Zweifel.«
»Nun, ich vertraue ihm nicht.«
»Das musst du auch nicht.«
»Seine Reputation spricht nicht für ihn.«
»Seine Reputation ist nicht annähernd so schlecht wie …« Nate verstummte abrupt.
»Nicht annähernd so schlecht wie welche?« Ihre blauen Augen blitzten.
»Nichts«, murmelte Nate.
»Nicht so schlecht wie die meines Bruders? War es das, was du sagen wolltest?«
»Nein, selbstverständlich nicht«, leugnete er vergebens.
»Ich bitte dich, Nathanial, du musst mich nicht schonen. Ich weiß sehr wohl, was für ein Mensch mein Bruder war.«
Nate sah sie erstaunt an. »Ich …«
»Nathanial«, begann sie und blickte ihm in die Augen. Ihre Stimme klang kühl, doch da war ein winziger Hauch von Verzweiflung. »Bei einem Mann wie meinem Bruder wundert es niemanden, wenn er eines Tages in einem fernen Land mit aufgeschlitzter Kehle endet.«
»Das hast du mit angehört?«
»Ja.« Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Ich habe es gehört.«
»Das tut mir leid.«
»Was? Dass ich es gehört habe oder dass es geschah?«
»Beides.«
»Es muss dir nicht leidtun. Ich wusste zwar nicht, wie er starb, doch es überrascht mich nicht.«
»Dennoch ist es tragisch.«
»Tragisch? Natürlich ist es tragisch, vor allem nachdem ich Lord Rathbourne fand.« Sie erschauderte. »Obwohl ich vermute, dass es eine recht schnelle Art zu sterben ist.«
»Gabriella, ich …«
»Aber ich wusste, was für ein Mann Enrico war. Ich habe es immer gewusst, nur fiel es mir schwer, das laut auszusprechen. Er war alles, was ich hatte, meine einzige Familie.« Sie schwieg einen Moment. »Ich sehe dich mit deinen Brüdern, deiner Mutter und deiner Schwester. Zwischen euch existiert eine Verbundenheit, die … ziemlich bemerkenswert ist. Und ich gestehe, dass ich dich darum beneide.«
Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Mein Bruder und ich hatten nie, was ihr habt. Ich war eine Belastung für Enrico. Nicht dass er mich schlecht behandelte, nein, er achtete sehr wohl darauf, dass ich alles hatte, was ich brauchte.«
»Du brauchst nicht mehr zu sagen.«
Sie ignorierte ihn und ging im Zimmer auf und ab. Die Worte schienen ihr von allein über die Lippen zu kommen. »Erst nach seinem Tod erfuhr ich, dass wir finanziell keineswegs so eingeschränkt waren, wie er mich glauben machte. Ich entdeckte, dass ich ein beachtliches Vermögen besaß, von dem sowohl mein Unterhalt als auch Enricos Arbeit bezahlt worden waren. Enrico hatte es nie erwähnt.«
»Ja, ich weiß.«
Gabriella sprach unbeirrt weiter. »Als Enrico mich einige Jahre nach dem Tod meines Vaters aufspürte, lebte ich unter trostlosen Umständen. Er rettete mich, Nathanial, und dafür betete ich ihn an. Er kleidete mich wie einen Jungen und nahm mich mit zu seinen Ausgrabungen und Schatzsuchen.«
Sie blieb stehen und sah Nate trotzig an. »Ich habe jede Minute genossen. Erst als er mich dann in England ließ, begriff ich, dass das, was ich für seinen brüderlichen Wunsch hielt, mich an seiner Seite zu haben, in Wahrheit nichts als Bequemlichkeit war. Für ihn war es leichter, mich mitzunehmen, als mich in England oder Italien erziehen zu lassen. Und so sehr ich die Reisen mit ihm auch liebte, waren sie nicht zu meinem Besten. Im Grunde habe ich wohl immer gewusst, dass die Sorge meines Bruders einzig ihm selbst, seiner Arbeit galt, auch wenn ich es mir bis vor Kurzem nicht eingestehen wollte.«
»Ich weiß.«
»Ach ja? Du weißt von meiner Kindheit? Von meinem Vermögen?«
Er nickte.
»Wie kannst du irgendetwas darüber wissen?«
Er verzog unglücklich das Gesicht. »Ich ließ Erkundigungen einziehen.«
»Erkundigungen?« Sie riss die Augen weit auf. »Du hast mich überprüfen lassen?«
»Kannst du es mir verübeln? Du hast mich und meine Familie belogen. Verdammt, Gabriella, du bist in unser Haus eingebrochen!«
»Wie lange weißt du es?«
»Seit gestern.«
Sie sah ihn prüfend an. »Und wann erfuhrst du von Quintons Beteiligung an allem?«
Er zögerte, denn sie würde es sicher nicht gut aufnehmen. »Vor ein paar Tagen.«
»Bevor ich in dein Zimmer kam?«, fragte sie langsam.
»Ja.«
»Und du dachtest nicht
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