Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
junge Dame war, und sie in England zurückließ, während er weiter seiner Arbeit nachging. Was indes genauso sehr ihre Schuld war wie seine. Und von Zurücklassen konnte man eigentlich auch nicht sprechen. Er hatte für sie gesorgt, ihr Schulen ausgesucht und alles arrangiert, damit es ihr an nichts mangelte. Dass sie kein richtiges Zuhause hatte und eine Familie, die aus zwei langjährigen Dienern sowie einer bezahlten Gesellschafterin bestand, war schlicht ihr Schicksal, mit dem sie noch nie übermäßig gehadert hatte. Warum sie es in diesem Moment tat, konnte sie nicht sagen. Es musste am Walzer liegen, an den Versprechen, die in seiner Melodie und seinem Rhythmus mitschwangen – nicht zu vergessen die Wärme des Mannes, dessen Arm sie umfing und dessen Hand sie hielt.
Hatte sie denn nicht das Beste aus ihren Möglichkeiten gemacht? Hatte sie die letzten neun Jahre nicht mit dem Studium der Sprachen und der antiken Kulturen verbracht, alles im Hinblick auf die Zeit, wenn sie endlich wieder ihren Bruder begleiten dürfte? Und hatte nicht derjenige, der sein Leben zerstörte, ihre Zukunft gleichfalls vernichtet?
»Ich fürchte, Sie sind sehr weit weg.« Der feste Druck von Harringtons Hand auf ihrem Rücken ließ Gabriella aufmerken. »Aber das verdiene ich wohl.«
»Nein, ich entschuldige mich, Mr Harrington«, erwiderte sie. »Sie dürfen der Musik die Schuld geben.«
»Die schöne blaue Donau ist schuldig?« Er schmunzelte. »Ein Segen! Mir ist es ungleich lieber, Ihre Nachdenklichkeit auf die Schönheit des Walzers zu schieben als auf die Eintönigkeit meines Charakters.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine Dame Ihren Charakter eintönig nennen würde.«
»Nun, ich schätze, Sie sind nicht irgendeine Dame, richtig?«
»Nein.« Sie lächelte zu ihm auf. »Ich bin die eine, an die Sie sich nicht erinnern.«
Er zog die Brauen zusammen und sah sie an. »Ich versichere Ihnen, es wird mir wieder einfallen.« Sie vollführten eine perfekte Drehung. »Im Tanz harmonieren wir sehr hübsch.«
»Als hätten wir schon vorher miteinander getanzt?«
»Exakt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass ich der Frau meiner Träume begegnet bin und mich nicht an ihren Namen erinnere.«
»Der Frau Ihrer Träume?« Ihr Atem stockte, doch sie rang sich ein neckisches Lächeln ab. Sie wollte gewiss nicht die Frau seiner Träume sein, aber sie glaubte ihm ohnehin nicht, dass er es ernst meinte. Viel zu leicht gingen ihm die Worte über die Lippen. »Zweifellos gab es im Laufe Ihrer Reisen viele Träume und viele Frauen.«
»Die im Vergleich zu Ihnen allesamt verblassen.« Er blickte ihr in die Augen, und plötzlich lag zwischen ihnen etwas Unausgesprochenes, Bedeutsames und zugleich Vielversprechendes in der Luft. Gütiger, er war gefährlich!
»Die Träume oder die Frauen?«, fragte sie ohne nachzudenken.
»Beides.«
Gabriella atmete tief ein und ignorierte das Gefühl, das seine Worte und das Leuchten seiner Augen in ihr weckten. »Sie sind ein Abenteurer, Sir, ein Schatzjäger. Solchen Herren ist nicht zu trauen.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich recht vertrauenswürdig sein kann«, sagte er unbekümmert.
»Und ich gestehe, dass Sie charmant und vielleicht sogar freundlich sein können, aber vertrauenswürdig? Das bezweifle ich«, konterte sie kopfschüttelnd. »Außerdem muss Vertrauen meiner Erfahrung nach verdient werden.«
»Dann hätte ich gern eine Gelegenheit, Ihnen zu beweisen, dass ich sehr wohl vertrauenswürdig bin.« Er sah sie auf einmal sehr ernst an.
Was Gabriella lieber nicht beachtete. »Ich vermute, die Gelegenheit, auf die Sie setzen, hat nichts mit Vertrauen zu tun.«
Ein Lächeln trat auf seine Züge. »Sie sind eine wunderschöne Dame und ein Mysterium, wenngleich ich zweites womöglich selbst verschuldet habe. Aber können Sie mir verübeln, eine Chance zu wünschen, sei es auch eine noch so kleine?«
»Nicht im Geringsten.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Ihr Ruf, wie der Ihres Bruders, eilt Ihnen voraus. Sie sind ein Schurke, Mr Harrington, und Schurken ist selten zu trauen.«
Seine Hand umfasste ihre fester. »War ich ein Schurke, als ich Sie im Mondschein küsste?«
»Nie ein größerer als da.« Die Musik endete, und er führte sie von der Tanzfläche. »Nun?«
»Nun?«
»Hat unser Tanz Ihr Gedächtnis auffrischen können?«
»Nein«, antwortete er hörbar enttäuscht. »Würden Sie mir noch eine weitere Chance geben? Falls Sie nicht mit mir
Weitere Kostenlose Bücher