Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
mischte sie sich unter die Menge, blieb jedoch eher am Rand, bis sie die offenen Terrassentüren erreichte.
Natürlich hatte sie sich schon mit anderen Männern auf kleine Plänkeleien eingelassen, doch noch niemals so kühn. Sie hatte es bei Nathanial Harrington gar nicht vorgehabt. Es war einfach geschehen, wie von selbst. Und sie konnte nicht einmal behaupten, den Mann zu mögen. Vielmehr verachtete sie ihn und seinen Bruder. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass er charmant und gut aussehend war – mit seinem dunklen, teils sonnengebleichten Haar, dem teuflischen Funkeln in den braunen Augen und den breiten Schultern. Er hatte jenes verwegene Lächeln, bei dem eine Frau sich fragte, was er Unangemessenes denken mochte. Und warum diese unanständigen Gedanken so überaus faszinierend waren.
Sie hatte überhaupt nicht geplant, mit ihm zu sprechen. Ja, sie hatte sich nicht einmal überlegt, was sie sagen könnte, falls sie in der Bibliothek entdeckt wurde. Der Brieföffner lieferte ihr eine ideale Ausrede. Wäre Harrington einen Moment später erschienen, hätte er sie beim Aufbruchversuch ertappt. Und den hätte sie unmöglich erklären können.
Sie schlüpfte durch die Türen hinaus auf die Terrasse, wo sie auf die Stufen zusteuerte, die in den Garten hinunter führten. Er hatte gesagt, sie käme ihm bekannt vor, was nicht gut war. Hoffentlich lenkte ihn der ganze Unsinn über Tanzen und Küsse im Mondlicht ab. Er durfte nicht herausfinden, dass sie es war, die ihn in Ägypten angesprochen hatte. Dort nämlich hatte er sie für einen Mann gehalten, den Bruder ihres Bruders, und das sollte er auch weiterhin denken.
An der obersten Stufe blieb sie stehen und trat einen Schritt beiseite, um ein junges Paar vorbeizulassen, das offensichtlich seine eigenen unanständigen Gedanken hegte. Das Schlimmste an der Begegnung mit Mr Harrington war, dass Gabriella sie genossen hatte. Da war ein Hauch von Gefahr gewesen, der berauschend wirkte. Und mit ihm zu spielen hatte ihr sehr großen Spaß gemacht. Allein sein unglücklicher Blick, als sie ihm sagte, sie hätten sich einst geküsst, war höchst befriedigend gewesen. Und verdiente er es nicht? Hatte er ihr nicht gesagt, sein Bruder wäre in die Türkei gereist? Sie war entschlossen gewesen, ihm dorthin nachzureisen, als Xerxes erfuhr, dass beide Brüder getrennt auf dem Rückweg nach England waren. So oder so war jenes Unternehmen ebenso erfolglos gewesen wie das heute Abend.
»Hatte ich Sie missverstanden?«, fragte Nathanial Harrington hinter ihr und kam neben sie. »Wollten wir mein Gedächtnis mit einem Spaziergang im Garten auffrischen, nicht mit einem Tanz?«
»Ich denke, ein Spaziergang mit einem Herrn, der sich nicht an den Namen einer Dame erinnert, wäre recht gefährlich.« Teufel noch eins, warum war sie nicht gegangen, als sie noch die Chance dazu hatte? Aber an einem einzigen Tanz war im Grunde nichts auszusetzen. Eine winzige Stimme in Gabriellas Kopf sagte ihr, dass sie deshalb getrödelt hatte. Unsinn! Gabriella wischte den Gedanken fort, dass sie womöglich mit ihm tanzen wollte .
»Ja, selbstverständlich.« Er verneigte sich. »Eine Dame wäre fürwahr närrisch …«
»Ich meinte, gefährlich für den Gentleman.« Gott stehe ihr bei, aber dies hier war spaßig!
Er sah sie an und lachte leise. »Nun gut, alsdann«, sagte er und wies zur Tanzfläche. »Wollen wir?«
»Ich liebe es, Walzer zu tanzen«, murmelte sie und nahm seinen Arm. Es war das Ehrlichste, was sie bisher zu ihm gesagt hatte. Er führte sie unter die Tanzenden, und kurz darauf war sie verloren.
Sie liebte den Walzer wirklich. Sie genoss es, wie die Musik ihre Seele einfing und sie entführte an einen Ort, in eine Zeit und in ein Leben, die es einzig in ihren Träumen gab. Und nur für Menschen wie Regina Harrington, die einen Earl zum Bruder und eine Familie hatten, die bereitwillig alles taten, um ihr Glück und einen Platz zu geben, an den sie gehörte. Nicht für Leute wie Gabriella Montini, die einsam unter Verwandten aufwuchs, denen nichts an ihr lag, bis sie von einem Bruder aufgespürt wurde, der sie von einer Expedition oder Schatzsuche zur nächsten schleppte.
Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Ihr hatte das Leben, wie sie es mit Enrico führte, gefallen. Sie hatte sich gern als Junge gekleidet und behandeln lassen, weil es auf die Weise sicherer für sie war. Umso verdrießlicher war es für sie, als Enrico erkannte, dass sein Leben ungeeignet für eine
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