Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
lediglich ein Tintenfass, mehrere Federhalter und ein Brieföffner, dessen Griff einen ägyptischen Fayence-Skarabäus darstellte. Ein Geschenk seiner Brüder, zweifelsohne, und sicher gestohlen. Gabriella nahm den Brieföffner und wog ihn in ihrer Hand. Er könnte hilfreich sein.
Sie kniete sich hin und musterte die mittlere Schublade. Das Schloss in der Mitte müsste sämtliche Schubladen öffnen. Falls sie also den Brieföffner in den schmalen Spalt zwischen Lade und Tischplatte schieben könnte und den Riegel damit beiseitedrücken …
»Kann ich Ihnen helfen?«
Zweites Kapitel
Von ihrem Gesicht war nur die obere Hälfte über der Schreibtischkante zu sehen, wo sich ihre blauen Augen erschrocken weiteten.
Gut. Nate gefiel es, eine Dame zu überraschen, denn das verschaffte ihm einen anfänglichen Vorteil. Er hatte gesehen, wie sie den Ballsaal verließ und zunächst angenommen, sie würde sich in den Empfangssalon der Damen zurückziehen. Dort wollte er nahe der Tür warten, bis sie wiederkam, hatte dann aber beim Blick in den Korridor bemerkt, wie die Bibliothekstür geschlossen wurde, und beschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen, die Bekanntschaft der schönen Fremden zu machen. Vorausgesetzt natürlich, sie traf sich nicht mit jemand anderem in der Bibliothek.
Er trat auf sie zu. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, aber danke.« Sie richtete sich auf. Nate stellte fest, dass sie größer war, als er gedacht hatte, wenn auch nicht viel. Sie war etwa einen halben Kopf kleiner als er, also die ideale Größe.
»Darf ich fragen, was Sie hier tun?«
»Was ich hier tue?« Sie zuckte mit den grazilen Schultern, die das Apricot-Kleid freiließ. »Da Sie mich ertappten, sollte ich wohl gestehen.«
Er bedachte sie mit jenem trägen, verschlagenen Lächeln, das ihm schon immer gute Dienste erwiesen hatte. Auch wenn er in Bezug auf das schöne Geschlecht weniger versiert war als Quint, hatte Nate noch nie Grund gehabt, an seinem Charme zu zweifeln. Und dieses besondere Lächeln war seine wirksamste Waffe. »Ah, ich mag Geständnisse. Ganz besonders solche von wunderschönen Damen.«
Sie blickte ihn einen Moment unverwandt an, dann lachte sie. »Ich fürchte, von diesem werden Sie enttäuscht sein«, sagte sie und kam mit einem Brieföffner in der Hand hinterm Schreibtisch vor. »Es ist kein sonderlich aufregendes.«
Nate musterte sie. In Modedingen kannte er sich wenig aus, doch dank der fortwährenden Unterhaltungen seiner Mutter und seiner Schwester über selbiges Thema, konnte Nate nun erkennen, dass es sich bei diesem Kleid um eine sehr modische französische Kreation handelte. Die Seide schmiegte sich hübsch an Kurven, die fraglos von einem Korsett verstärkt wurden. Dabei hätten ihre Brustwölbungen, die von dem tief ausgeschnittenen Mieder entblößt wurden, keinerlei Unterstützung bedurft. Nate dankte Gott, dass es die Franzosen gab. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie irgendetwas sagen könnten, was nicht aufregend wäre.«
An dieser Stelle schenkte sie ihm ein verführerisches Lächeln, bei dem Nates Mund trocken wurde. »Wie reizend von Ihnen, das zu sagen.«
»Nun, ich wüsste noch eine Menge weiterer reizender Dinge zu sagen.« Er ging langsam auf sie zu. »Beispielsweise könnte ich erwähnen, wie ausgesprochen gut die Farbe Ihres Kleids mit der Ihrer Augen harmoniert.«
»Ach, das ist wahrlich entzückend!«
»Und dennoch könnte ich es übertreffen. Ich könnte außerdem feststellen …« Sein Blick fiel auf den Brieföffner in ihren handschuhverhüllten Fingern. »Was tun Sie damit?«
Sie drehte den Öffner hin und her, und einen winzigen Moment lang dachte Nate, sie hätte vor, das Schreibtischutensil als Waffe zu benutzen. »Ich sah ihn auf dem Schreibtisch und wollte ihn mir genauer ansehen. Ungeschickt wie ich bin, ließ ich ihn fallen, und er landete unter dem Tisch.« Sie reichte ihm den Brieföffner. »Ist der Skarabäus echt?«
»So echt wie alles, was man auf einem Basar in Kairo kauft.« Er betrachtete den Öffner. »Ich erwarb ihn letztes Jahr als Geschenk für den Sekretär meines Bruders.«
»Dann sind Sie nicht nur charmant, sondern auch noch freundlich?«
Er lachte. »Ich kann es sein.« Dann warf er den Brieföffner auf den Schreibtisch. »Doch Sie versprachen mir zu gestehen, warum Sie hier in der Bibliothek sind.«
»Nein, ich habe mich dagegen entschieden«, erwiderte sie mit einem beiläufigen Achselzucken. »Es schien mir nicht ganz fair, dass ich Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher