Pfand der Leidenschaft
Röcke tragen sollte. Und ein Korsett, um Himmels willen! Aber im vergangenen Jahr, das dermaßen turbulent gewesen war, hatte Amelia einfach nicht die Zeit gefunden, sich um die Kleidung ihrer jüngsten Schwester zu kümmern. Sie musste unbedingt mit Beatrix und Poppy eine Schneiderin aufsuchen und ihnen neue Kleider anfertigen lassen. Als sie diesen Punkt gedanklich auf die lange Liste unerledigter Aufgaben setzte, runzelte Amelia die Stirn.
»Hier ist dein Frühstück, Win«, sagte Beatrix und stellte das Tablett auf ihrem Schoß ab. »Fühlst du dich gut genug, um den Toast selbst mit Butter zu bestreichen, oder soll ich das für dich tun?«
»Danke, das schaffe ich gerade noch.« Win zog die Füße an und bedeutete Beatrix, sich ans andere Ende der Chaiselongue zu setzen.
Beatrix kam der Aufforderung geschwind nach. »Ich werde dir vorlesen, solange du hier draußen sitzt«, sagte sie und griff in eine der riesigen Taschen ihrer Schürze. Sie zog ein kleines Büchlein hervor und wedelte es theatralisch vor ihrer Nase hin und her. »Dieses Buch habe ich von Philomena Parsons geschenkt bekommen, meiner allerbesten Freundin auf der ganzen Welt. Sie behauptet, es ist eine furchterregende Geschichte voller Verbrechen und Gräueltaten und rachsüchtiger Geister. Klingt das nicht verlockend?«
»Ich dachte, deine allerbeste Freundin sei Edwina Huddersfield?«, wollte Win zaghaft wissen.
»O nein, das ist doch schon Wochen her! Edwina und ich sprechen jetzt nicht mal mehr miteinander.« Beatrix, die es sich in ihrer Ecke bequem machte, warf ihrer älteren Schwester einen verwirrten Blick zu. »Win? Ist etwas nicht in Ordnung?«
Win, die gerade ihre Teetasse an die Lippen führte, war mitten in der Bewegung erstarrt, und ihre blauen Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.
Als Amelia dem Blick ihrer Schwester folgte, bemerkte sie ein kleines Reptil, das sich an Beatrix’ Schulter entlangschlängelte. Ein schriller Schrei entfuhr ihren Lippen, und sie stürzte mit ausgestreckten Händen auf ihre Schwester zu.
Beatrix spähte auf ihre Schulter. »Oh, Mist! Du sollst doch in meiner Tasche bleiben.« Sie las das sich windende Tier auf und streichelte es sanft. »Eine Zauneidechse«, erklärte sie. »Ist sie nicht bezaubernd?
Ich habe sie gestern in meinem Zimmer gefunden.«
Amelia ließ die Arme sinken und starrte ihre jüngste Schwester ungläubig an.
»Das ist kein Haustier!«, sagte Win schwach. »Beatrix, meine Liebe, denkst du nicht, sie wäre im Wald glücklicher?«
Beatrix war empört. »Bei all den Raubtieren? Schuppi würde keine Minute überleben.«
Amelia fand endlich ihre Sprache wieder. »Sie würde aber auch keine Minute mit mir überleben. Beseitige sie, Bea, oder ich werde ihr mit dem nächstbesten schweren Gegenstand eins überziehen.«
»Du würdest mein Haustier ermorden?«
»Eidechsen werden nicht ermordet, Bea. Man beseitigt sie.« Gereizt drehte sich Amelia zu Merripen um. »Treib bitte ein paar Frauen im Dorf auf, Merripen. Wer weiß, wie viele andere unerwünschte Geschöpfe sich im Haus herumtreiben. Abgesehen von Leo.«
Merripen verschwand augenblicklich.
»Schuppi ist das perfekte Haustier«, widersprach Beatrix. »Sie beißt nicht und ist stubenrein.«
»Alles, was Schuppen besitzt, ist kein Haustier.«
Beatrix sah sie aufmüpfig an. »Die Zauneidechse ist in Hampshire beheimatet – was bedeutet, dass Schuppis Anrecht, hier zu sein, mehr wiegt als unseres.«
»Dennoch werden wir beide nicht unter einem Dach leben.« Bevor Amelia noch etwas sagte, was sie später vielleicht bereuen würde, ging sie rasch weg und fragte sich verwundert, warum Beatrix ein solcher Quälgeist war. Es gab doch so viel zu tun. Dann
stahl sich jedoch ein Lächeln auf ihre Lippen, und sie erkannte, dass sich fünfzehnjährige Mädchen nicht freiwillig aussuchten, ein Quälgeist zu sein. Sie waren es einfach.
Im nächsten Moment sprang sie bereits leichtfüßig die große Treppe in der Eingangshalle hoch. Da sie keine Gäste erwarteten oder selbst Besuche machen mussten, hatte sie sich entschieden, an diesem Tag kein Korsett zu tragen. Es war ein wundervolles Gefühl, so tief einatmen zu können, wie sie wollte, und sich völlig frei im Haus zu bewegen.
Entschlossen hämmerte sie an Leos Tür. »Wach auf, du Langschläfer!«
Eine Abfolge übelster Beschimpfungen drang durch die schwere Eichentür.
Grinsend stürmte Amelia in Poppys Zimmer. Sie riss die Vorhänge auf, wobei ihr eine riesige
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