Pfarrers Kinder Muellers Vieh
Kaffee in den Tassen Wellen schlug. Nach neun Strophen durften wir uns setzen, und der unliturgische Teil des Nachmittags begann. Wir tranken kalten Kaffee und aßen dazu Hefezopf oder Schneckennudeln. Weil diese Backwaren nicht in der besten, wohl aber in der kirchlichsten Bäckerei gekauft wurden, vermittelten sie keinen großen Genuß. Auch die hungrigsten Pfarrer nahmen mit wenigen Stücken vorlieb.
Bei festlichen Anlässen, etwa dem Neujahrspfarrkranz, folgte nach dem Kaffee eine Musikeinlage, dargeboten von instrumentenkundigen Pfarrern, Pfarrfrauen oder Pfarrkindern. Diese Darbietungen reichten von kläglich gepiepsten Blockflötenstückchen bis zu gewaltigen Händelsonaten mit langen Sätzen und vielen Wiederholungen. Die Zuhörer — anfangs aufmerksam und beeindruckt — verloren bald jegliche Hoffnung, die Sache könne in absehbarer Zeit ein gutes Ende nehmen.
Es gab hervorragende Musiker unter den Pfarrern, solche, die ausgezeichnet Flöte, Geige oder Cello spielten. Weil sie aber selten zusammen übten, klappten die Aufführungen nie so recht. Das geplagte Auditorium mußte wiederholte Anfänge, Dispute über die verschiedenen Tempoauffassungen und lautes Taktklopfen mit den Füßen über sich ergehen lassen.
Als Kind wurde auch mir die Ehre zuteil, bei einer solchen musikalischen Darbietung mitzuwirken. Es war im Advent, eine Zeit, in der man gern Flötentöne hört und Kinder musizieren sieht. In der Familie spielten wir oft zusammen. Beate blies Altblockflöte, ich die kleine Sopranflöte und Mutti begleitete auf dem Klavier. Zu Hause klappte es immer und machte uns Spaß. Als ich aber vor der versammelten Pfarrerschaft spielen sollte, blieb mir buchstäblich die Puste weg.
Es war ein »langer Pfarrkranz«, das heißt, einer, der von morgens bis abends dauerte. Wir beiden Flötistinnen kamen in den Gemeindehaussaal. Da saßen die Pfarrer mit ihren Frauen an langen Tischen und aßen Kartoffelsalat und Würstchen. Dieser Anblick, dazu der Essensgeruch und die Geräusche entsetzten mich so sehr, daß mir auf dem Wege zum Harmonium ganz schwindlig wurde. Vorne angekommen, im Blickfeld aller Leute, nahmen wir die Flötenteile aus den Kästen und steckten sie zusammen. Aber schon dieser einfache, oft geübte Vorgang bereitete mir Schwierigkeiten. Meine Finger waren eiskalt und naß. Das Mahl war beendet, das Dankgebet gesprochen. Die Pfarrer lehnten sich zurück, blinzelten schläfrig und hatten nichts dagegen, ein Flötenstückchen anzuhören. Mutti saß auf der Harmoniumbank, wir Mädchen rechts und links von ihr. Das erste Stück sollte ich allein spielen. Es hieß »Armes Waldvögelein«. Mutti begann den ersten Takt, dann hätte ich mit dem Gezwitscher des Waldvögeleins einfallen sollen, aber die Flöte blieb stumm. Ich bewegte mühsam die Finger über die Löcher, doch ich brachte keine Luft in die Flöte hinein.
»Los!« zischte Mutti und wiederholte den Anfang, »dein Einsatz!«
Nur ein kläglicher Jammerton kam aus der Flöte. Die Pfarrer erwachten aus ihrem Verdauungsschläfchen und schauten interessiert zu uns herüber. Was war denn das? Wo blieb die Musik? Mutti blätterte in den Noten.
»Das zweite Stück!« flüsterte sie. Der Anfangsakkord erklang. Beates Altflöte fiel mit dunklem Ton ein. Langsam wich der Druck aus meinem Kopf. Ich konnte wieder durchatmen und Luft in die Flöte strömen lassen. Mein Einsatz klang noch matt, aber immer sicherer und voller liefen die beiden Flötenstimmen nebeneinander her. Das Sopranflötensolo nahte. Wie wundervoll hatte ich es zu Hause geblasen, mit Tremolo und kunstvollsten Trillern und Kadenzen! Selbst Else, die musikalische Geräusche verabscheute, hatte sich positiv darüber geäußert: »Ich muß immer pinkeln, wenn ich dir hör, Pickdewick, das tut wie’n Wasserfall!«
Jetzt aber wurde mir wieder schwindlig. Kaum konnte ich die Flöte in den nassen Fingern halten. Mutti warf einen Blick auf mein bleiches Gesicht und blätterte entschlossen die Noten um, sie überschlug mein Solo.
»Mach weiter, Beate!« Beate spielte ihr Solo, ohne mit der Wimper zu zucken, sie trillerte hemmungslos, die Zuhörer klatschten. Ich schrumpfte auf der Bank zusammen. Die Tränen schossen mir in die Augen. O, wie wütend ich war! Auf die klatschenden Pfarrer, die strahlende Beate und vor allem auf mich selber. Was für einen abscheulichen Streich hatte ich mir da gespielt?! Im letzten Satz musizierten wir wieder zusammen. Es lief wie geschmiert, kein falscher
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