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Pfarrers Kinder Muellers Vieh

Pfarrers Kinder Muellers Vieh

Titel: Pfarrers Kinder Muellers Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amei Müller
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schwer. Ich fürchtete immer, daß er einmal keine Predigt zustande bringen würde, daß er auf die Kanzel steigen müßte und den Leuten bekennen: »Liebe Gemeinde, diese Bibelstelle ist zu schwierig. Ich weiß nicht, was ich darüber sagen soll.«
    Am Sonntagmorgen lastete düsteres Schweigen über dem Frühstückstisch. Mit besorgten Blicken musterten wir unseren Ernährer. Sah er verzweifelt aus oder zuversichtlich? Nahm er zwei Stück Kuchen oder nur eines? Bis schließlich einer von uns die Ungewißheit nicht mehr länger ertragen konnte.
    »Ist die Predigt fertig?«
    Und wenn er dann nickte und sagte: »Ja, ich habe sie in der Nacht noch viele Male umgearbeitet, aber nun glaube ich, daß es mit Gottes Hilfe gehen wird«, dann kpllerte uns ein dicker Stein vom Herzen. Wahre Glückseligkeit aber wurde uns erst zuteil, wenn der Gottesdienst überstanden war.
    Vati liebte es, seine Predigt mit Versen auszuschmücken. Jedesmal, wenn er zu einem solchen Vers ansetzte, begann mein Herz wild zu schlagen. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel: »Ach, lieber Gott, hilf doch, daß er den Vers gut zu Ende bringt!« Dies nämlich war keineswegs immer der Fall. Oft hatte er die letzten Reime einfach vergessen. Dann griff er zur Selbsthilfe und schmiedete eigene Reime dazu. Wir Kinder in der Pfarrbank, meine Mutter nicht ausgenommen, hielten den Atem an. Würde er es schaffen? O Glück, wenn alles gut gegangen war. Wir atmeten erleichtert auf, stießen uns an, lachten: »Na, wie hat er das wieder hingebracht!«
    »Paul-Gerhard«, sagte meine Mutter einmal nach einer solchen nervenzerreißenden Predigt — da hatte er gleich vier Verse zitiert — »Paul-Gerhard, könntest du die Strophen nicht vielleicht aufschreiben und vor dich auf die Kanzel legen, es wäre für uns eine große Beruhigung.«
    »Wenn es euch beruhigt, will ich es gerne tun«, sagte er, »obwohl ihr zugeben müßt, daß ich noch nie stecken geblieben bin.«
    Am Sonntag hatte er mehrere Zettel bei sich, als er auf die Kanzel stieg. Wir sahen es und fühlten uns gelöst und heiter. Nach der Verlesung des Textes flatterte der erste Zettel von der Kanzel. Wir sahen ihn entsetzt zu Boden schweben, Vati hatte nichts bemerkt. Ich saß diesmal ganz vorne in der Bank. Sollte ich den Zettel aufheben und ihn auf die Kanzel bringen? Aber wie? Der Eingang zur Kanzeltreppe war von der Sakristei aus. Einmal predigte ein Vikar bei uns. Offenbar hatte man versäumt, ihm in der Sakristei die Türe zur Kanzeltreppe zu zeigen. Also kam er feierlich bei der letzten Strophe des Eingangsliedes in die Kirche herein und schritt bis zur Kanzel. Dort blieb er stehen und schaute suchend nach oben. Wo war die Treppe, wie kam man hinauf? Nun war aber in der Woche zuvor der Maler in der Kirche gewesen und hatte über der Empore die Wand geweißelt. Eine seiner Leitern lehnte noch in einer Kirchenecke, im Blickfeld des armen Vikars. Er schaute zur Kanzel hinauf, er schaute zur Leiter hinüber. Die Gemeinde verharrte in hoffnungsvollem Grausen. Würde er die Leiter holen und hinaufsteigen? Doch in dem Augenblick, da der Vikar tatsächlich Anstalten machte, die Leiter zu ergreifen, eilte ein Kirchengemeinderat herbei und führte den verwirrten Menschen zurück in die Sakristei. Kurze Zeit später erschien er hochroten Angesichts auf der Kanzel.
    Mein Vater pflegte seine Predigt mit beredten Gesten zu unterstreichen. Die weiten Talarärmel wehten über den Kanzelrand, und wie Tauben aus dem Hut eines Zauberers schwebten weiße Zettel hernieder. Die Gemeinde sah sie mit Interesse fallen, wir Kinder wurden stocksteif vor Schreck. Wir warteten auf schlimme Dinge, auf angstvolles Herumsuchen, auf stotterndes Zitieren. Nichts dergleichen geschah. In dieser Predigt gab es keine Verse. Völlig unerwartet brach das »Amen« über uns herein. Das Predigtlied wurde aufgeschlagen, Gesangbuchblätter knisterten, man war bereit zu singen und öffnete den Mund, aber die Orgel blieb stumm. Der Organist, wohlbewandert in den Gepflogenheiten seines Pfarrers, stellte den Orgelmotor erst an, wenn er den obligaten Schlußvers hörte. Diesmal hatte ihn das »Amen« völlig unvorbereitet getroffen.
    Wir saßen am Mittagstisch, aber wir hatten keinen Appetit, wir waren böse. »Paul-Gerhard«, auch die Stimme meiner Mutter klang vorwurfsvoll, »Paul-Gerhard, warum hast du heute keine Verse aufgesagt?«
    »Ihr mögt es doch nicht,« sagte Vati, »da habe ich sie eben weggelassen.«
    »Ja, und die Zettel?« rief

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