Pfeilgift: Katinka Palfys Siebter Fall
umgekommen, mitten in seiner schönen Fabrik. Die Mutter zuckte schon beim Anreißen eines Streichholzes zusammen. Ihr Blick flackerte auf eine ganz bestimmte Weise, wenn sie die Brüder mit Streichhölzern erwischte, und still ließen die beiden die Schachtel in Mutters Handfläche fallen.
Es gab aber neue Gelegenheiten, auf die man nur zu warten brauchte. Er hatte Geduld gehabt. Und so zeigte ihm sein Bruder am Nikolaustag, wie man ein Streichholz anriss. Er tat sich weh, verbrannte sich die Fingerkuppe, aber er weinte nicht. Er überwand die Angst, ritzte das Streichholz über die präparierte Fläche, und dann war sie da, die Flamme, schoss grell in die Höhe und fraß sich das winzige Holzstäbchen entlang. Wie ein Wurm. Wie ein Tier. Ein Tier, dass wuchs und wuchs.
11. Bilanzen
»Findest du das professionell?«, fragte Cuno süffisant.
»Was denn!«, fuhr Katinka auf.
»Er könnte sie theoretisch umbringen.«
»Vergiss es«, fauchte Katinka. Es war Sonntagabend. Vor einer halben Stunde war Gerfried Jäger bei Paula aufgetaucht. Nun hatten sich Vater und Tochter im Wohnzimmer verschanzt und redeten. Katinka war sich selbst nicht sicher, was sie tun sollte. Paula hatte sie gebeten, den Raum zu verlassen, aber sie klebte doch mit dem Ohr an der Tür.
»Nervös? Zigarette?«
Cuno lehnte an der Arbeitszimmertür und kramte eine Schachtel Pall Mall aus der Hemdtasche.
»Später.«
»Rauchst du nicht mehr?«
»Schon lange aufgehört.«
»Entspann dich mal.«
Katinka ging voraus in die Küche. Am liebsten hätte sie ihm ein paar Zeilen angesagt, aber sie brauchte ihn noch und schluckte ihren Ärger hinunter.
»Was hast du rausgekriegt?«
Cuno kostete Katinkas Spannung aus. Er zündete seinen Glimmstängel an.
»Eine abstruse Dame, diese Bernhild«, sagte er. »Ich habe mich als Drogenberater vorgestellt, habe behauptet, Hagen hätte mich um ein Gespräch gebeten, wegen Marie. Weil Hagen aber tot ist, hätte ich mich an sie gewendet. Ich kann wirklich gut mit älteren Damen.«
»Daran habe ich nicht gezweifelt, Cuno!«
Er sog tief den Rauch ein.
»Bernhild hält Marie für eine Versagerin, aber sie liebt das Mädchen abgöttisch. Vielleicht ist Marie das Ergebnis eines Seitensprungs. Das erklärt oft die intensive Beziehung von Müttern zu einem bestimmten Kind.«
»Hast du ihr das unter die Nase gerieben?«
Cuno blies die Backen auf und ließ Qualm ab.
»Bernhild ist gespalten. Sie sieht, wie ergebnislos Maries Therapien verlaufen, aber deshalb hört sie noch lange nicht auf, etwas für Marie zu tun. Überleg doch mal: Die Alternative wäre, dass die Familie Marie abschreibt und in der Gosse verenden lässt. Das ist einfach das Traurige an diesen Suchtsachen. Du willst helfen, aber die gute Absicht endet an deiner eigenen Machtlosigkeit.«
»Was sagt Bernhild über die Gründe, warum Marie auf den Hund gekommen ist?«, fragte Katinka.
»In der neunten Klasse war Marie Klassensprecherin und Vorsitzende in einem Schultheaterklub. Die Truppe trat in Nürnberg auf, und dort lernte Marie einen Typen kennen, in den sie sich verliebte. Die klassische Geschichte. Er der Junkie, sie die Krankenschwester. Natürlich verfiel Marie der großen Illusion, dass die Liebe alle Wunden heilt, und hängte sich an den Kerl. Ein paar Wochen später soff und kiffte sie selbst.«
»Wann hat Bernhild das gemerkt?«
»Ziemlich schnell! Maries Noten rutschten in den Keller, Bernhild wurde von den Lehrern in die Sprechstunde einbestellt.«
Katinka ahnte, wie wenig Bernhild diese Situation behagt haben konnte.
»Hier kommt Hagen ins Spiel. Immerhin bestand ein Altersunterschied von sieben Jahren zwischen den beiden. Bernhild legte Wert darauf, dass er den Babysitter spielte. Er sollte Verantwortung lernen. Aber als Marie mit sechzehn abrutschte, studierte Hagen und hatte eine Freundin.«
»Paula?«
»Nein. Die Vorgängerin, an der Bernhild übrigens auch kein gutes Haar gelassen hat.« Cuno drückte seine Zigarette aus.
Katinka ging auf den Flur und lauschte. Das Gespräch im Wohnzimmer war noch in vollem Gang. Katinka hörte Gerfried murmeln, ab und zu unterbrochen von Paulas Zwischenrufen.
»Du meinst, dass Hagen kein offenes Ohr für seine Schwester hatte? Ich nehme mir doch mal eine.« Katinka kam zurück und langte nach der Zigarettenschachtel.
»In der Zeit noch nicht. Er kam einige Male nach Schweinfurt, immer dann, wenn Marie im Rinnstein lag. Bernhild kreischte einen Hilferuf an ihren Sohn in die Leitung.
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