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Pferde, Wind und Sonne

Pferde, Wind und Sonne

Titel: Pferde, Wind und Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cescco
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Meeresbrausen. Ihr Kopf lag in einer warmen, weichen Mulde. Sie schlug die Augen auf und sah den blauschwarzen Himmel. Über dem Horizont schwebte ein milchiger, runder Mond. Karin stöhnte. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Kopf von einem Eisenring umspannt. Ein Schatten glitt vor ihren Augen vorbei. Als sie mühsam den Kopf bewegte, nahm sie eine Gestalt wahr, die sich über sie beugte.
    »Hast du dir weh getan?« fragte eine Stimme. Karin blinzelte. Durch die Finsternis erkannte sie ein knochiges, bronzebraunes Gesicht. Graue Haarsträhnen schauten unter einem Kopftuch hervor: Es war Thyna, die Zigeunerin.
    »Was... was ist?« stammelte Karin.
    Die Alte kicherte vor sich hin. »>Glanzstern< mag es nicht, daß man mit ihm spielt.«
    Auf einmal war Karins Gedächtnis wieder klar. Sie erinnerte sich an alles: die Begegnung mit dem Hengst, ihr waghalsiger Versuch aufzusteigen. Dann sein wütendes Sträuben... ihr Sturz...! Hatte sie vielleicht einen Schädelbruch?
    Thyna schien ihre Gedanken zu erraten, denn sie besänftigte sie mit einem Lächeln und einem leichten Händedruck. »Beruhige dich. Es ist nur der Schock. Da, du kannst deine Beule fühlen.« Sie führte behutsam Karins Finger, und Karin stöhnte, als sie die schmerzhafte Anschwellung berührte. Doch gleichzeitig wurde ihr auch klar, daß ihr Haar die Beule verdeckte. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Daß sie ihr Mißgeschick geheimhalten konnte, machte sie restlos nüchtern und gab sie der Wirklichkeit zurück. Sie richtete sich auf und strich den feuchten Sand von ihren Kleidern.
    »...wie lange habe ich da gelegen?« fragte sie.
    »Nur ein paar Minuten«, antwortete die Zigeunerin. Ihr sonderbar starrer Blick schimmerte zwischen ihren halb geschlossenen Lidern.
    »Schon zwei Nächte beobachte ich dich. Ich wußte, daß dieser Augenblick kommen würde.«
    »Aber wie denn?« stotterte Karin.
    »Wenn Vollmond ist, schlafe ich nur in den ersten Nachtstunden«, sagte die Alte. Sie kauerte sich neben Karin nieder und wiegte sich leicht auf den Fersen hin und her. »Ich erwache mit den Tieren, wenn sich der Schattengeist im Mondlicht regt und das Innerste der Erde aus der Tiefe flutet. Das ist die Stunde, da die Tiere auf Jagd gehen. Wenn du aufmerksam lauschst, kannst du das Tappen von tausend Füßen hören, Seufzer, Röcheln, Klagen. Schnauzen wühlen in der Erde; Zähne reißen die Wurzeln, Krallen schaben den Boden. Raubvögel fliegen durchs Gebüsch, die Stiere fordern sich zu nächtlichen Kämpfen heraus, und die großen Fische tauchen aus dem Wasser...«
    Erschrocken und wie gebannt starrte Karin die Alte an. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut überlief. Thyna sprach weiter, mit ihrer leisen, belegten Stimme.
    »Nur wenige Menschen wagen sich in die Tiefe der Nacht vor. Sie haben Angst, Angst vor der Leere, der Finsternis, ihrem eigenen Blut und dem Unsichtbaren. Die Furcht vor dem Bösen hindert sie, der Erde unter ihren Füßen und dem Himmel über ihren Köpfen zu trauen. Du fürchtest dich nicht...«
    »Das heißt...«, begann Karin.
    »Nein, du fürchtest dich nicht«, wiederholte Thyna und betrachtete sie forschend. »Ich sagte es dir schon: Du trägst das Zeichen.«
    »Was für ein Zeichen?«
    »Das Zeichen, an dem die Tiere ihre Freunde erkennen. Mit diesem Zeichen wird man geboren.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Tiere sind weder unsere Brüder noch unsere Sklaven. Ihre Seele bewegt sich in anderen Welten als der unsrigen. Aber wir haben das gleiche Blut, die gleichen Organe, denn am Anfang des Lebens entstanden wir gemeinsam aus dem Urlehm der Erde...« Karin schwieg befangen. Sie hatte starke Kopfschmerzen und verstand nur die Hälfte von dem, was die Alte da sagte. Als Thyna ihre Verwirrung bemerkte, lächelte sie.
    »Ich lese nicht die Zukunft aus Handlinien. Ich schaue in die Herzen der Menschen und erkenne, was sie vor sich selbst und den anderen verbergen.«
    Sie stützte das spitze Kinn in die Hände und betrachtete Karin.
    Das Mädchen blickte verlegen und frierend zur Seite. Es war höchste Zeit heimzukehren, dachte sie.
    Als sie sich erheben wollte, sagte die Alte: »Du hast >Glanzstern< beleidigt. Es liegt jetzt an dir, sein Vertrauen wiederzugewinnen.«
    Karin zuckte erschrocken zusammen. »Was soll ich denn nur tun? Tante Justine glaubt, der Hengst sei bösartig und verrückt. Sie hat beschlossen, ihn zu verkaufen. Wenn ich ihn hätte reiten können, wäre der Beweis erbracht, daß sie sich irrt. Jetzt ist

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