Pferde, Wind und Sonne
die Seen. Nur der gedämpfte Hufschlag und manchmal ein Rascheln im Unterholz unterbrachen die Stille.
Karin fürchtete sich nicht mehr vor den Sümpfen und dem Dickicht. Bald hatte sie den Strand erreicht. Sie überließ es dem Zufall und hoffte auf ihren Instinkt, >Glanzstern< aufzuspüren. Um so größer war ihr Erstaunen, als sie ihn von magischem Licht umflutet, wie ein Standbild aus reinem Kristall, am Fuße der Dünen erblickte. Er schien allein gekommen zu sein, die Herde war nicht in Sicht. Seit dem Tage ihrer ersten Begegnung mit dem Hengst wußte Karin nicht, worüber sie sich mehr wundern sollte: über die unverkennbare Gewißheit, daß er sie erwartete, oder das seltsame Vertrauen, das er ihr entgegenbrachte. Die Aufregung schnürte ihr die Kehle zu, als sie absaß und >Rosa< fesselte. Dann löste sie den Seden, der am Sattelknopf aufgerollt war, und ging langsam durch den feuchten Sand. Sie hatte nicht die geringste Furcht, eine seltsame Zuversicht erfüllte sie. Wenn >Glanzstern< es zuließ, daß sie sich ihm näherte, und sich streicheln ließ, warum sollte sie ihn dann nicht auch reiten können? Lichtgarben glitzerten im dunklen Meer. Den Kopf hoch aufgerichtet, mit spielenden Ohren witterte der Hengst. Er hatte sie erkannt. Wie gewohnt, sprach Karin ihm leise zu: Es ging weniger um die Worte als um den Klang ihrer Stimme.
Vielleicht verstand dieser Hengst doch instinktiv, was sie da auf ihn einredete: »Ich bin es! Ich muß dich wegbringen. Es ist wichtig, du bist in Gefahr! Ich muß auf dir wegreiten. Du darfst mich nicht abschütteln. Es muß sein...«
Der Hengst schnaubte, als er die vertraute Stimme vernahm. Die Mähne, vom Nachtwind bewegt, flatterte über seinen Hals, dessen breite, stolze Wölbung den langen Kopf hervorhob. »Nie war >Glanzstern< schöner gewesen«, dachte Karin. Er schien es zu wissen; während sie sich ihm näherte, um ihn zu berühren, tänzelte er verspielt, beugte und wiegte den geschmeidigen Hals, bewegte den Kopf auf und nieder. Als sie die Hand ausstreckte, erstarrte er. Sie fühlte unter den Fingern das warme, rauhe Fell. Sie streichelte die weichen Nüstern. Das Fell roch nach Algen, Sand und scharfem Schweiß.
Der Augenblick war gekommen. Karin zwang sich zur Ruhe. Sie holte aus ihrer Tasche Zuckerstücke hervor. Während >Glanzstern< sie nacheinander von ihrer Handfläche nahm, streifte sie ihm vorsichtig den doppelt zusammengelegten Seden ins Maul.
Der Hengst kaute arglos daran. Karin fühlte ihr Herz an die Rippen pochen. Langsam streckte sie den Arm aus, legte ihn um den Hals des Pferdes. Mit einem Blick schätzte sie seine Größe ab. Die Camargue-Pferde sind im allgemeinen von gedrungenem Wuchs und lassen sich leicht besteigen. Jedoch dieses hier... Karin vergrub die Hand in >Glanzsterns< Mähne. Ihre Gedanken waren sonderbar hellsichtig. Sie gefährdete mit ihren Wünschen, diesen Hengst zu reiten, alles: die wunderbare Verbundenheit mit diesem Tier, sein Zutrauen, seine Freundschaft. Aber sie setzte noch mehr aufs Spiel, denn niemand konnte >Glanzsterns< Verhalten voraussehen...
Karin biß die Zähne zusammen. Mit der rechten Hand griff sie in die Mähne und sprang auf. Es gelang ihr beim ersten Versuch. >Glanzsterns< Rücken war breit und federnd. Die regelmäßigen Atemzüge hoben und senkten seine Flanken. Eine oder mehrere Sekunden vergingen, dann stockte plötzlich sein Atem. >Glanzstern< stand mit gespannten Muskeln völlig regungslos da. Karin schluckte. Ihre Finger umschlossen das Seil, das ihr als Zügel diente. Behutsam berührten ihre Knie die Flanken des Hengstes. >Glanzstern< machte einen Schritt, dann noch einen, mit der vorsichtigen und unsicheren Gangart der Pferde, die zum erstenmal geritten werden. Karin zog ganz leicht an dem Seil. Ein Zucken durchlief den Körper des Hengstes. Seine Lenden wölbten sich, der Hals beugte sich plötzlich. Karin hatte das Gefühl, daß der Kopf wie ein Zentnergewicht an ihren Armen riß. Fast im selben Augenblick stieß >Glanzstern< ein schrilles Wiehern aus, bäumte sich auf. Karin blieb keine Zeit aufzuschreien. Wie von einer Schleuder abgeschnellt, flog sie durch die Luft und schlug auf dem Boden auf. Der Sand kam ihr hart wie Zement vor. Sterne explodierten vor ihren Augen. Bevor sie in die Dunkelheit tauchte, spürte sie am Vibrieren des Bodens den Galopp eines Pferdes, das sich am Strand entfernte...
Allmählich kam ihr Bewußtsein zurück. Das Sausen in ihren Ohren klang wie dumpfes
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