Pferdekuss
Gelegenheit. Bei Falko gab es kein »Nicht so schnell!« Kaum hatte ich meine Füße in den Steigbügeln und nahm die Zügel auf, spannte er sich, hob die Nase und galoppierte los.
Wir donnerten über die Holzbrücke, die an der Scheunenrampe über die Ars führte, und gewannen den Weg, der sich kilometerlang gen Norden außen um die gesamten Koppeln des Gestüts herumzog. Nach den ersten gewalttätigen Sprüngen Falkos spürte ich, dass er mir nicht durchging, sondern nur ein Tempo anbot, das er aus meinen unbewussten körperlichen Signalen als das gewünschte herausgespürt hatte. In solchen Momenten gab es nichts anderes, als dass sich Pferd und Reiter völlig aufeinander einließen, dem anderen Vernunft unterstellten und einander vertrauten, soweit es das gegensätzliche tierische und menschliche Sicherheitsbedürfnis zuließ. So ein Pferd atmete wie ich, sah und hörte und versuchte, Gefahren abzuschätzen und zu entscheiden, wo es langging. Die jeweiligen Auffassungen und Entscheidungen teilten sich dem einen wie dem anderen permanent über die Muskelspannungen mit. Zum Beispiel zuckte Falko zusammen, als hinter einer Wegbiegung unvermittelt ei ne Bank auftauchte, aber nur, weil ich in der Furcht zusammenzuckte, er könnte scheuen. Ich begriff, dass er sich mir als Reiterin hingab, und helle Freude flutete meine Seele.
Wir flogen zwischen Koppelzäunen und Waldrand den unbefestigten Weg hinauf gen Norden. Kalter Waldschatten wechselte mit sonnigen Breschen. Die Pferde auf den Weiden hoben die Köpfe. Der Sattel knirschte, die Hufeisen krachten auf wegspratzenden Steinen. Fal kos Mähne flatterte, sein Atem tönte.
Hinter der ersten Nordkuppe kam uns der öffentliche Spazierweg in die Quere, der durchs Gestüt schnitt. Leu te mit Dackeln und Kinderwagen bevölkerten ihn. Ich musste Falko parieren. Ich hoffte noch, dass es mir gelänge, da fiel er schon in Trab, weil ich mich mit Becken und Knien gegen die Galoppbewegung gesperrt hatte. Im Schritt betrat er den Asphaltweg und umrundete aufmerksam einen kleinen Jungen, der sich uns trotz des Geschreis seiner Eltern in den Weg stellte und mit ausgestreckter Hand den Wunsch äußerte, das Pferd zu streicheln. Weil wir nicht anhielten, schleuderte er uns dann den Stock hinterher, den er in der anderen Hand hielt. Falko zuckte zusammen, als ihm das Stöckchen an die Fesseln hagelte. Aber er raste nicht los. Ein seelisch sehr stabiles Pferd, das nicht leicht den Überblick verlor. Ich entspannte mich. Wieder auf dem unbefestigten Außenweg fiel Falko in einen ruhigen Kantergalopp, einen kurzen leichten Galopp auf der Basis sparsamer Bewegungen, der auch für den Reiter mühelos war und den Araber stundenlang durchhalten konnten.
Wir erreichten die Stutenweide. Die weiße Herde der Shagyas weidete mit den Nasen gen Süden, zwischen ihnen ein gutes Dutzend staksiger Rappschimmelfohlen. Die Muttertiere hoben die Köpfe. Selbst über Kilometer hinweg nehmen Pferde über die Bodenerschütterung galoppierende Artgenossen wahr. Ein Mensch war zwischen ihnen nicht zu entdecken. Hier war Hajo nicht.
Zum Ende der Stutenweide hin verengte sich unser Weg. Die Koppel der Junghengste lag hinter einer zweiten nördlichen Anhöhe. Sie stieg nur ein paar Meter an, war aber hoch genug, dass man auch vom Pferd aus keinen Einblick ins Gelände dahinter hatte. Links rückte uns der Wald zu Leibe, schattig und kühl. Vor uns lag jäh eine Jungfichte quer. Zum Glück entschied auch Falko, dass er da nicht hinüberspringen konnte, und stoppte unwillig grunzend. Der Baum war aus dem ausgetrockneten losen Erdreich des steilen Waldabbruchs über den Weg auf die oberste Zaunlatte der Südwestecke der Junghengstkoppel gefallen.
Ich erinnerte mich, dass Hajo in der Küche meiner Mutter etwas von einem beschädigten Zaun erzählt hatte, den er suchen musste. Schlagartig wurde mir klar, was das bedeutete. Vor einer halben Stunde war der General vom Gestütshof aus gen Norden geritten. Siglinde befand sich schon länger mit Hunting Star draußen. Es war allgemein bekannt, dass Hajo samstags die Zäune abradelte und zu Fuß die Herden besichtigte. Heute konnten Siglinde und der General absolut sicher sein, dass er sich wegen des Bäumchens auf dem Zaun eine Weile auf der abgelegenen Junghengstweide aufhalten würde. Nur kam ich hier nicht weiter und befand mich überdies auf der falschen Seite. Der Eingang zur Hengstkoppel lag am zentralen Hauptweg, den der General vorhin eingeschlagen hatte.
Weitere Kostenlose Bücher