Pferdekuss
Raubbeute einen Sinn.
Die Mühlräder malmten mich in Schlaf. Tonnen von Heu lagerten auf mir. Irgendwann wachte ich auf und schnappte nach Luft.
Etwas war da noch, etwas stimmte nicht.
27
»Kind, was ist denn?« Meine Mutter taumelte im Sofa hoch.
»Ich brauche ein Taxi. Ich muss noch mal ins Gestüt. Hast du die Nummer von der Taxizentrale? Wo ist das Telefonbuch?«
Sie schwang benommen die Beine von der Couch, suchte mit verkrümmten Zehen die Schlappen und zippelte das schwarze Hauskleid über die Knie. »Wo es im mer liegt, im Flur unterm Telefon. Was bist du denn so kopf los, Kind?«
Ich atmete aus. Hab doch ein bisschen Gottvertrauen! Intuition ist der Gott der Gottlosen.
Das Gestüt war schwarz vor Menschen und Pferden. Es war kaum ein Durchkommen. Schweife pfiffen, Leute eilten, Pferde kreuzten. Mütter, haltet eure Kinder fest, die Wochenendreiter stürmen im Galopp die Feldwege.
Ich probierte die Bürotür. Verschlossen. Die Tür des alten Bauernhauses war zu, aber nicht verschlossen, der Herd kalt und verlassen. Ich stieg im Haus die Treppe hoch. Der Sessel des Generals unter der Eichenwand war leer. Ich drang bis in sein Schlafzimmer vor. Auch hier war er nicht.
Das Fenster wies auf die Westweide, auf der einst der Kirschbaum gestanden hatte, von dem an einem heißen Mittag wie diesem Siglinde stürzte. Auf der Kommode zu Füßen des Betts standen zwei Hochzeitsfotos. Das Schwarzweiße zeigte Friedrich Gallion nachkriegsmager, aber mit optimistischem Wirtschaftswunderkinn neben Karoline, der Edlen aus Ostpreußen. Ihre Dauerwellen wirkten wie in Metall gegossen, die Augen blickten gefasst ins Eheschicksal. Ihre Hand hing in Friedrichs Armbeuge.
Das Farbfoto daneben bildete Todt und mich ab. Der Wind fuhr durch meine Dauerwellen. Ich lachte in meinem weißen Kleid. Aus Todts Gesicht hatte sich das Lä cheln fast verflüchtigt. Ich spürte wieder den Wind auf dem Rathausplatz von Vingen, fühlte Todts Muskeln unter meiner Hand, hörte den Anzug rascheln, roch sein Rasierwasser. Die schwarzen Augen hatte er von seinem Vater, Kinn und Mund von seiner Mutter. So oft hatte ich sein Mienenspiel sich wandeln sehen, dass ich mich seit Jahren schon nicht mehr an sein Gesicht erinnerte, wie es solche Fotos festhielten. Nicht mein Auge, sondern mein Körper hatte die Erinnerung bewahrt. Manchmal wachte ich nachts auf, weil er mich besucht, sich an mich ge drängelt, mich mit Armen und Beinen umschlungen hat te. Meine Tage nach solchen Träumen waren Festtage. Denn zu mir kamen die Toten nachts zurück, während meine Mutter tags zum Friedhof ging und Fotos in Schrankscheiben klemmte.
Langsam stieg ich die Treppe wieder hinab und überquerte den Hof. Im Reiterstüble saßen allerlei erhitzte Leute bei Weizenbier und Apfelsaftschorle. Die Tische am Panoramafenster zur Halle waren allesamt besetzt. Unten übten zwei Dutzend Reiter eine Quadrille. Um diese Kunst zu begreifen, durfte man eine Quadrille nicht im Fernsehen sehen. Man musste die Pferde glucksen und keuchen hören, den Brodem von Schweiß, Stallmist und Sägespänen in der Nase haben. Der Bereiter, der den Trupp mit Triller pfeife von der Tribüne aus dirigierte, war nicht Hajo.
An einem Tisch hinter mir flackerte wieder dieses »Siglindes Schwägerin« auf. Ich erkannte Dr. Norbert Hilgert, den Kinderarzt, der gestern die ohnmächtige Julia betreut hatte. Er fing meinen Blick ein und grüßte eifrig. Drei Reiter saßen bei ihm vor leeren Weizengläsern.
»Falls es Sie interessiert«, sagte er, »Julia geht es wieder gut. Sie haben sie schon gestern Nachmittag aus dem Krankenhaus entlassen. Sie hatte einen Schock. An das, was ihn ausgelöst hat, erinnert sie sich nicht. Vielleicht gut so, nicht wahr. Das muss ein schrecklicher Anblick gewesen sein.«
»Doch ja, schrecklich«, pflichtete ich bei. »Haben Sie eine Ahnung, wo Hajo ist?«
»Auf den Koppeln«, nahm ein gut behauchter Mann neben Hilgert das Wort. »Samstags ischer immer bei seinen Stuten und Fohlen, die Zäun kontrolliere, damit koi Pferdle davonläuft.«
Stimmt. Hajo hatte in der Küche meiner Mutter bereits hunderte von Zaunkilometern ins Auge gefasst.
»Und Siglinde?«
»Die han i mit ihrem Hunting Star nausgehe sähe.«
»Ich brauche ein Pferd.«
»Nehmet Sie sich doch oins. ’s schtandet ja g’nug da herum.« Die Männer lachten. Dem Bebauchten sprang der Bauch gegen die Tischkante. »Nehmet Se doch ’s Hexle. Des wird Ihne scho zeige, wo unte isch.«
Ich wandte
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