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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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nannte man sie allerorts hinter vorgehaltener Hand. Satans brutale Gesellen.
    Weder Mitleid noch Nachsicht ließen sie gelten, kümmerten sich nicht um das Flehen der Weiber, das Wimmern der Kinder. Fenster und Türen jedes befallenen Hauses wurden von ihnen mit Brettern vernagelt, ein großes schwarzes Kreuz an die Tür gemalt oder ein Bund Stroh darübergehängt. Keiner scherte sich darum, was mit denen geschah, die drinnen noch ausharrten. Sie konnten froh sein, wenn einer der Nachbarn sich erbarmte und eine vergessene Ritze entdeckte, um ihnen Trink- und Essbares zukommen zu lassen, während die Preise für Lebensmittel in der ganzen Stadt ohnehin in nie zuvor erreichte Höhen schnellten. Andere, Mutigere, verwendeten Behältnisse, die an langen Stangen durch widerrechtlich aufgebrochene Fensteröffnungen gereicht wurden. Nachts brannten auf den Plätzen große Feuer, mit Räucherwerk und Tannenzapfen geschürt. Kleidungsstücke, Hausrat, Möbel wurden hier ein Raub der Flammen, und im gespenstischen Licht sah man, wie hie und dort frische Leichen zum Abholen vor die Schwelle gelegt wurden, so schnell und verstohlen, als könne man damit das Schreckliche überlisten und künftig vom Haus fernhalten.
    Aber gegen die Pestilenz war kein Kraut gewachsen.
    Seit drei schrecklichen Monaten wütete der Schwarze Tod bereits in der Lagunenstadt. Esra, seine Familie und Jesaja, Noomis jüngerer Bruder, waren auf Anraten eines jüdischen Arztes schon beim ersten Aufflackern der Seuche im Frühjahr nach Torcello geflohen, wo die Familie del Ponte ein Sommerhaus besaß; David del Ponte und seine Frau Salome waren aus wirtschaftlichen Überlegungen zunächst in Venedig verblieben. Sie hatten Angst um ihr schönes Haus auf der Giudecca und die anderen Anwesen, die er nach und nach in der Stadt erworben hatte. Mit gutem Grund. Denn immer dreister bemächtigten sich Räuberrotten verlassener Gebäude, nisteten sich dort ein oder besudelten und verwüsteten, was sie nicht mitnehmen und zu Geld machen konnten. Erst auf Drängen Noomis, die die Sorge um die Eltern nicht mehr schlafen ließ, kamen sie Wochen später mit großem Gepäck nach.
    Mit ihnen die Pest, wie sich herausstellen sollte.
    Nichts hatte geholfen, das Schreckliche abzuwenden, weder die Räucherungen mit Salbei und Wacholder, die Salome mehrmals am Tag in allen Räumen durchgeführt hatte, bevor sie selber krank wurde, noch die strengen Diätvorschriften, die David del Ponte peinlich genau befolgt hatte: nur kleine, bekömmliche Mahlzeiten aus Geflügel, Fisch, Gemüse und Früchten; kein Käse, keine schweren oder gewürzten Weine. Auch die Theriakpillen, die er von einem arabischen Händler für immenses Geld bezogen hatte und eifrig einnahm, kleine Kügelchen aus Aloe, Myrrhe und Safran, boten keinerlei Schutz. Er war der Zweite in der Familie, der nach Jesaja von der Pest befallen wurde und einen qualvollen Tod erlitt, bei dem er vor Schmerzen schrie und behauptete, am ganzen Körper geröstet und von glühenden Lanzenspitzen durchbohrt zu werden.
    Salome folgte ihm nur wenig später nach.
    Noah bewegte seine Glieder und wimmerte leise. Seine Augen, dunkel und mandelförmig wie die seiner Mutter, lagen tief in den Höhlen; die kindlichen Lippen waren rau und aufgesprungen. Esra ließ ein paar Tropfen Wein auf sie fallen, was den Kleinen dazu brachte, sie selbst in seiner Lethargie voller Abscheu zu verziehen. Dann betastete er die hohe Stirn des Fiebernden, und sie kam ihm kühler vor als einige Stunden zuvor. Und wenn das Wunder doch geschähe und Gott ihm dieses Kind ließe?
    Esra hob den Kopf. Seit Tagen, nein, Wochen, so schien es ihm, nahm er seine Umgebung zum ersten Mal wieder richtig wahr. Er sah das Meer, das unweit des Hauses in klarem Türkisblau schimmerte, das Sonnenlicht, das voll und golden auf dem alten Feigenbaum lag, unter dem er David del Ponte, seine Frau Salome und ihrer beider Sohn Jesaja mit eigenen Händen begraben hatte.
    Und vor sechs Tagen Noomi.
    Ohne Sarg, weil es hier auf Torcello an geeignetem Material fehlte und kein Schiff dieser Welt zu ein paar jüdischen Pestkranken in der Lagune aufgebrochen wäre, dafür jedoch nach dem Brauch der Väter. Zum richtigen Zeitpunkt, mit dem Kaddisch, das er allein hatte sprechen müssen, weil es außer ihm weit und breit keinen anderen Vertreter der Chewra Kadischa gab. Was er trug, war seitdem zerfetzt, weniger als äußerliches Zeichen der inneren Trauer, sondern weil ihn der Todeskampf seiner

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