Pforten der Nacht
sie der heilige Franz begründet und verstanden hatte! Der Dienst lag nicht nur im Fühlen und Empfinden, sondern auch und vor allem im Handeln und Tun. Sein Verhalten blieb nicht unbemerkt und strahlte bereits auf die Umgebung aus. Viele der anderen Mönche mieden seine Nähe, weil sie Johannes für verrückt oder übertrieben fromm hielten; manche machten sich insgeheim sogar lustig über den reichen Kaufmannssohn, der den Weg vom Saulus zum Paulus in nur drei Jahren Klosterzeit strenger und konsequenter als jeder andere eingeschlagen hatte. Aber es gab auch andere, eine kleine, allerdings wachsende Schar, die voller Bewunderung zu ihm aufblickte und eine Art Heilsbringer in ihm sah.
Bruno seufzte. Welche seltsamen Wege die Menschenseelen doch immer nahmen! Seine früheren Mitbrüder in Deutz, Andernach und Hameln hatten allzu sehr nach Macht und Einfluss gestrebt, dieser junge Mann hingegen verachtete den Körper und suchte einzig und allein nach Entrückung. Was der Orden des Franziskus aber brauchte, gerade in diesen schwierigen Zeiten, die viele Menschen ängstigten und der Kirche entfremdeten, waren keine weltabgewandten Asketen, sondern Männer, die ihren Glauben sichtbar lebten und damit anderen Mut und Kraft vermittelten.
»Nach Gott hungere ich«, erwiderte Johannes. »Nach seiner Liebe dürstet meine Seele. Ich möchte mein Gebet fortsetzen. Tag und Nacht. Das ist alles, wonach mich verlangt.«
»Ich weiß nicht, ob du dich diesen außerordentlichen Mühen wirklich unterziehen musst. Ja, ich meine sogar, dies könnte der verkehrte Pfad sein.«
»Was soll das heißen?« Johannes fuhr zu ihm herum, aufgebracht, beinahe wütend. »Hast du mich nicht gelehrt, mein Sein ganz in Gott zu suchen?«
»Sollte mir das gelungen sein, so ist es mir recht«, kam die Antwort. »Aber vergiss nicht, dass unsere Liebe zu Gott nichts Eigennütziges sein darf. Wir nähern uns ihm in dem Maße, in dem er sich uns nähert, indem er uns sein Licht und die Wärme seiner Liebe schenkt.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«
»Das scheint mir auch so!« Bruno legte seine Hand auf Johannes’ Arm, der so mager war, dass unwillkürlich Abscheu ihn erfasste. Der junge Mönch brauchte dringend eine Lektion gegen Hochmut und Selbstüberschätzung, versteckt im härenen Gewand der Demut. Und er sollte sie haben - auf ganz eigene Weise! »Dann mach dein Herz weit und höre! Die Weisheit und die Liebe Gottes strömen in die Geschöpfe hinein. So steht es schon bei Augustinus geschrieben. Und dieses Ausströmen kann auch als Ursprung der Rückkehr zum höchsten Ziel betrachtet werden. Solches erfüllt sich mit den Gaben, die allein in der Lage sind, uns mit Gott, dem höchsten Ziel, zu vereinen, als da sind: die heiligende Gnade und die Herrlichkeit.« Er hielt inne. »Du kannst mir folgen?«
Johannes nickte. Aber er sah dabei alles andere als glücklich oder zufrieden aus.
»Nun gut, so will ich weiterfahren.« Es schien zu funktionieren! Der junge Mann sollte nur nicht dem Fehlschluss erliegen, er sei schon am Ziel angelangt, wie schon so viele vor ihm. Bruno blieb so ernst und gesammelt wie bisher. Sein Tonfall jedoch war warm und voller Anteilnahme. »In der von ihrem ursprünglichen Prinzip rührenden Ausströmung der Geschöpfe liegt etwas wie ein Odem, denn alle Wesen kehren zu dem als ihrem Ziel zurück, von dem sie als ihrem Prinzip herkommen. Gott und wir sind also eins. Es gibt keine Trennung. Egal, was unser menschlicher Verstand uns auch immer einflüstert. Ich möchte, dass du das nie vergisst, frater, niemals!«
»Jetzt bin ich ganz verwirrt«, sagte Johannes nach einer ganzen Weile und strich sich über die Stirn, als sei er plötzlich erschöpft. »Ist es das, was du wolltest?«
»Wie solltest du auch anders?« Bruno lachte herzlich auf. »Gott ist und bleibt unfassbar, mein Sohn! Die klügsten Köpfe haben sich seit mehr als tausend Jahren bemüht, das Wunder des Allmächtigen zu begreifen. Dabei fließt es den reinsten, den unschuldigsten Herzen manchmal ganz von selber zu. Was ist jetzt mit meinem Vorschlag? Der Suppe? Dem Wein?«
»Wenn du unbedingt meinst …«
»Und ob ich meine! Außerdem habe ich noch eine Bitte an dich, Johannes! Ich möchte, dass du sie mir erfüllst.«
Beim Gehen berührte Bruno wieder den Arm seines Schützlings, und jetzt kam er ihm zart, fast zerbrechlich vor. Sie erreichten das Kirchenschiff und traten schließlich hinaus in einen lauen, warmen Sommerabend. Mücken
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