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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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eine lange Messe«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Mit schönen Gesängen.«
    »Ja, und jetzt hast du deinen jungen Juden verpasst«, fügte er hinzu und streckte ihr eine dünne Pergamentrolle entgegen. »Das soll ich dir von ihm geben. Er war mit einem vollgepackten Pferd da und schien es sehr eilig gehabt zu haben.«
    Ihre Hände zitterten leicht, aber sie nahm die Rolle äußerlich gleichmütig an sich.
    »Willst du sie nicht lesen?«, fragte Ardin. »Außerdem solltest du dich schonen, Anna. Du siehst blass aus.«
    »Später«, sagte sie. »Später.«
    Sie wartete, bis er hinüber in die Werkstatt gegangen war, dann lief sie raschen Schritts in die Bettkammer, der einzige Raum, wo sie jetzt Ruhe haben würde, und öffnete die Rolle. Esras Schrift war groß und ungeduldig; er verwendete Buchstaben nach italienischer Mode, die sie nicht gleich auf Anhieb erkannte. Sie musste das kurze Stück zweimal durchlesen, um es zu verstehen.
    Dann ließ sie die Rolle sinken.
    Esra war auf dem Weg nach Venedig, wo er sich ansiedeln, wo er leben und arbeiten würde. Nach Köln würde er nie wieder zurückkommen. Nun hatte sie beide Blutsfreunde für immer verloren. Den einen an Gott, den anderen an eine fremde Stadt, die ihn nicht mehr freiwillig herausgab.
    Tränen traten in ihre Augen. Sie fühlte sich leer, müde, wie zerbrochen.
    »Mama!«, ertönte Floras zwitscherndes Stimmchen von draußen. »Mama, wo bist du?«
    Sie wischte sich die Tränen mit dem Rockzipfel ab und atmete tief durch. Hier war ihr Leben, ihre Pflicht. Ihre Zukunft. Alles andere nur Vergangenheit. Es wurde Zeit, sie für immer hinter sich zu lassen.
    »Ich komme, Liebchen«, rief sie und stand langsam auf. »Ich komme!«

DRITTES BUCH

    Die Pest

Zwölf
    Noomi war vor sieben Nächten qualvoll gestorben, und es hatte allen Anschein, als würde der Sohn, den sie Esra im Frühling des letzten Jahres geboren hatte, die nächsten Stunden schwerlich überleben. Noah hatte gerade zu laufen begonnen, mit wackligen, unsicheren Schritten und zahllosen Stürzen, immer wieder nach der Hand der Mutter tastend, die ihn vor einem unsanften Aufprall schützen konnte, aber auch stolz über seinen neuen Erfolg, den er lauthals und fröhlich in die Welt hinauskrähte. Jetzt freilich war sein ehemals makelloser kleiner Körper mit Aberdutzenden schwärzlicher Beulen bedeckt, die nicht einmal das Gemisch im Leinensäckchen aus Feigen, gekochten Zwiebeln, Fett und Sauerteig zum Aufbrechen hatte bringen können. Unter den Ärmchen und vor allem in der Leistengegend hatten sich harte, fast monströse Schwellungen gebildet. Er fieberte und schien ohne Bewusstsein.
    Sein Puls raste.
    Obwohl er noch nicht sprechen konnte, sondern gerade erst mit sichtlichem Vergnügen die ersten Laute zu geheimnisvollen Wortgebilden zusammenzog, die Noomi am besten zu deuten verstanden hatte, wusste der Vater, dass den Kleinen seit Tagen fürchterliche Kopfschmerzen malträtierten.
    Es blieb Esra nicht viel anderes übrig, als seine Glut mit kalten Waden- und Halswickeln zu kühlen und ihn zärtlich in den Armen zu wiegen, als quälten ihn lediglich böse Träume, die hoffentlich bald endeten. Gedankenverloren zupfte er das Kemiot auf der Brust des Kleinen zurecht, das sich schon wieder verheddert hatte, ein Amulett an einer silbernen Kette, gefüllt mit winzig geschriebenen Sprüchen gegen den bösen Blick und jede Art von Krankheit. Ebenso wirkungslos gegen die Seuche wie alle anderen Maßnahmen, zu denen er in seiner Hilflosigkeit und wachsenden Verzweiflung gegriffen hatte.
    Welcher schreckliche Fluch lastete auf ihm?
    Was hatten er oder die Seinen verbrochen, um mit solchem Leid belegt zu werden?
    Alle waren sie tot, alle, die seinem Herzen jemals nahegestanden hatten, erst die Eltern, Simon und Miriam, dann die neue Familie hier in Venedig, und was mit Jakub, Recha, Lea und Aaron im fernen Köln sein mochte, daran wagte er gar nicht erst zu denken. Und nun sollte er auch noch dieses Kind verlieren, das er mehr liebte als sein Augenlicht!
    Kraftlos fühlte er sich, so unendlich leer und erschöpft, dass er nicht einmal mehr weinen konnte. Irgendwann hatte er sich ein paar Bissen Brot und ein Stückchen getrocknetes Fleisch in den Mund gesteckt, um sich sofort wieder zu übergeben. Ab und zu nahm er einen Schluck Rotwein aus der großen Korbflasche, weil er dem Wasser misstraute, das angeblich schuld am Tod so vieler Menschen sein sollte. Außerdem war Esra dankbar für die ständige

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