Pforten der Nacht
Familienmitglieder daran gehindert hatte, sich um Nebensächlichkeiten wie frische Kleidung zu kümmern.
Er stank wie ein Schweinestall; überall auf Hemd und Hose waren Blut, Eiter, Schweiß verschmiert. Ekel überfiel ihn. Es war bereits Nachmittag, und er hatte vor lauter Sorge und Müdigkeit noch nicht einmal das Schacharit gesprochen. In dieser erbärmlichen äußerlichen und inneren Verfassung konnte er Gott wahrlich nicht zum Morgengebet gegenübertreten!
Er trug Noah behutsam ins Haus, wo er seine Wiege in der hellen, luftigen Eingangshalle aufgestellt hatte. Waidgefärbte Vorhänge sperrten die Sonne aus und tauchten den Raum in milchiges Blau. Die Tür stand offen, weit genug, um die Brise hereinzulassen, die vom Wasser kam. Der Kleine lag jetzt ganz ruhig; nur ab und zu ballten sich wie in einem unsichtbaren Kampf seine Hände zu Fäustchen. Die Brust hob und senkte sich gleichmäßiger. Gelegentlich war ein beunruhigendes Rasseln zu hören, an das Esra inzwischen allerdings bereits gewöhnt war.
Er vergeudete keine Zeit, sondern zog sich aus und warf die schmutzigen Kleider auf den Scheiterhaufen, auf dem er, wie von einem jüdischen Heilkundigen gleich zu Beginn der Seuche empfohlen, auch das Bettzeug der Toten verbrannt hatte. Im Garten übergoss er sich von Kopf bis Fuß mit dem Wasser aus der Zisterne, die zum Haus gehörte. Dabei hielt er Augen und Mund fest geschlossen, um ja keinen vorwitzigen Tropfen hereinzulassen. Anschließend trocknete er sich ab, schlüpfte in Leinenhemd und Beinlinge und fuhr mit einem gezinkten Hornkamm durch die Haare. Seit seiner Rückkehr nach Venedig trug er wie die meisten erwachsenen Juden einen Bart, der ebenfalls dringend gestutzt gehört hätte. Das konnte er fühlen, auch ohne Spiegel. Aber dazu war später noch immer Gelegenheit.
Er legte den Tallit um, befestigte die Gebetsriemen und begann, so ausgerüstet mit Schal und Tefillin, seine Andacht vor dem Haus, ganz in der Nähe ihrer Gräber. Wie gut es sich anfühlte, sauber und erfrischt zu sein! Jetzt war er bereit. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Gebet.
»Gesegnet seist du, Adonaj, unser Gott, Bildner des Lichts und Schöpfer der Finsternis, der Frieden stiftet und schafft das All … Herr der Wunder, er erneuert in seiner Güte an jedem Tag stets das Werk der Schöpfung …«
Esra ben Simon bewegte sich in langsamem Rhythmus, vor und zurück, wie es ihm Jakub von Kindheit an beigebracht hatte, und spürte, wie bei den vertrauten Worten Kraft und Zuversicht erneut in ihm zu keimen begannen.
Wie hatte er so kleinmütig sein können? Gott hatte ihn nicht verlassen!
Wie nur einen Augenblick zweifeln können? Gott war bei ihm. Seit jeher. Für alle Zeiten.
Und bei Noah.
»… auf deinen heiligen, großen und ehrfurchtbaren Namen vertrauen wir; wir jubeln und freuen uns deiner Hilfe. Bring uns Frieden heim von den vier Enden der Erde, und führe uns aufrecht in unser Land …«
Seine Reise war noch lange nicht zu Ende. Er lebte. Und er war dankbar dafür. Natürlich würde er versuchen, Noah ein ebenso guter Vater zu sein, wie es Onkel Jakub nach Simons viel zu frühem Tod gewesen war. Und was er ihm alles beibringen würde! Sie würden zusammenbleiben, in Liebe verbunden, bis der Kleine erwachsen genug wäre, um eigene Wege zu gehen. Ein winziges Lächeln spielte um seine Lippen, obwohl er dabei nicht einen Lidschlag lang seine Trauer über die geliebten Toten vergaß.
Aber waren nicht Kinder das Salz der Erde, das Pfand der Ewigkeit?
Noomi hatte es ihm zugeflüstert auf dem Totenlager.
»Er ist mein Augapfel. Versprich mir, dass du ihn nie verlässt!«
»Niemals - bei meinem Leben!«
»Auch, wenn du eines Tages zu Anna zurückkehrst?« Ihre Stimme nur ein Hauch.
»Was denkst du nur?« Er brauste auf, obwohl er wusste, wie sterbenselend sie war. Er konnte nicht anders! Sie durfte nicht aussprechen, wonach er sich insgeheim sehnte, seitdem er Köln vor drei Jahren verlassen hatte. Vor allem nicht jetzt, in diesem schrecklichsten aller Augenblicke, wo unausweichlich schien, dass er sie verlieren musste. »Niemals werde ich …«
»Schweig!« Sie hatte sich schmerzvoll aufgebäumt. »Ich weiß, dass du mich niemals so geliebt hast wie sie. Du wirst deine Christin wiedersehen. Und warum auch nicht? All die Jahre hast du davon geträumt. Und jetzt, wo ich sterben muss, macht es mich nicht einmal mehr traurig. Aber ich bin die Mutter deines Sohnes. Ihn gebe ich in deine Hände. Noah ist
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