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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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so schön, so kostbar, ein Stück von uns beiden. Ich möchte, dass du das niemals vergisst.«
    »Niemals, meine Noomi«, flüsterte Esra, während er den Schal ablegte und die Riemen langsam löste, »niemals!«
    Er beugte sich über die Wiege.
    Noahs Gesicht sah verändert aus, gelöster, fast entspannt. Es schien ihm wirklich besserzugehen! Vielleicht konnte er ihn später sogar dazu bringen, ein paar Löffel Suppe zu schlucken und sie auch noch unten zu behalten. Er streckte seine Hand aus, streichelte voller Zärtlichkeit die vormals rundlichen Wangen, die jetzt ganz eingefallen waren. Sie fühlten sich kühl an.
    Viel zu kühl!
    Esra erstarrte. Riss wie von Sinnen den kleinen Körper aus der Wiege, presste ihn an sich, um ihn wieder mit Leben zu erfüllen.
    Aber es war zu spät. Der Todesengel hatte während seines Gebets die Schwelle bereits überschritten.
    Das Kind in seinen Armen blieb leblos wie eine Wachspuppe.
     
    Natürlich fand Bruno de Berck seinen Schützling wieder in der Krypta, wo die hiesigen Minoriten ihre Reliquien aufbewahrten: ein Splitter vom Kreuz Jesu in einer goldenen, rubinbesetzten Monstranz, die Gebeine eines weniger bekannten Heiligen namens Demetrius, der im fernen Syrien den Märtyrertod durch wilde Bestien erlitten hatte, ein großes gewebtes Tuch, das sicheren Quellen zufolge aus dem Heiligen Land stammen sollte und aus einem Höhlengrab geborgen worden war. Johannes kniete vor einem gläsernen Schrein, der, wie man sagte, den zertrümmerten Schädel der heiligen Apollonia barg, und schien tief ins Gebet versunken. Reliquien waren teuer und begehrt; deshalb konnte sich ein armer Orden nur wenige, ausgesuchte Stücke leisten, Schätze, die er besonders hütete. Ölfunzeln hingen in eisernen Ringen an den Wänden und verbreiteten nicht nur flackerndes Licht, sondern auch ihren typisch beißenden Gestank, der vielen Kopfschmerzen verursachte, dem Betenden jedoch nichts auszumachen schien.
    Trotzdem hatte Johannes das Geräusch der Schritte offenbar doch aus seiner Andacht gerissen. Noch im Knien wandte er sich zu dem Eindringling um.
    »Du bist es«, sagte er und erhob sich, erstaunlich steif für einen so jungen Mann.
    »Ja, ich bin es«, erwiderte Bruno, dem nichts entging, weder die Magerkeit des Gesichts noch die Unbeholfenheit der Bewegung. »Ich habe dich beim Essen vermisst. Wieder einmal! Einerseits kann ich gut verstehen, dass die Schwüle draußen dich hierher in die kühle Beschaulichkeit getrieben hat. Aber anderseits musst du mehr auf dich achten, Johannes! Und dazu gehört nicht nur ausreichend Schlaf. Auch zu strenges Fasten ermüdet Körper und Geist. Wir brauchen beides, um Gott zu dienen.«
    Johannes zuckte verächtlich die Schultern.
    »Was kümmert mich Schlaf? Was scheren mich Brot und Wasser? Ich habe andere Nahrung, bessere. Die einzig seligmachende! Und wenn ich erst einmal tot bin, jede Art von Ruhe, die ich brauche. Aber noch lebe ich. Noch bin ich da, um Ihm zu huldigen. Gott ist Licht, Bruno, reines Licht!«
    »Und die Ehre des Menschen der Widerschein des Göttlichen.«
    »Aber erst, nachdem der Mensch dem Körper als Ort tierischen Lebens entsagt hat und seine Seele sich aufschwingt zum krönenden Geist, dem Ort der wahren Liebesekstase.« Johannes trat näher, so nah, dass Bruno seinen Atem roch, der streng war wie der aller, die sich ständig kasteiten. Unwillkürlich wich er leicht zurück. Der andere schien es gar nicht zu bemerken. »Ich zweifle nicht mehr, Vater«, sagte er voller Inbrunst. »Ich weiß jetzt.«
    »Und ich weiß nicht, ob ich das gutheißen soll«, entgegnete Bruno. »Denn durch den Zweifel gelangen wir zur Suche und erst durch die Suche zur Wahrheit. Das hat schon Meister Abaelard gesagt, und er hat recht mit jedem einzelnen Wort.« Er zeigte ein kleines Lächeln. »Ich denke, du könntest jetzt eine kräftige Suppe vertragen und ein gutes Glas Wein. Warum kommst du nicht mit mir nach oben, und wir unterhalten uns ausführlich miteinander, so wie wir es früher oft getan haben?«
    Er sorgte sich um Johannes und versuchte trotzdem, ihm diese Besorgnis nicht zu deutlich zu zeigen. Etwas Merkwürdiges vollzog sich schon seit Längerem mit dem jungen Mönch, ein seltsamer Vorgang, den er nicht richtig beschreiben konnte, selbst wenn er sich anstrengte. Er spürte nur, wie Johannes ihm mehr und mehr entglitt, sich zurückzog in eine Welt, zu der keiner mehr Zugang hatte. Das war nicht der Sinn der klösterlichen Gemeinschaft, so wie

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