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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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leichte Benommenheit, die alles um ihn herum verwischte und unscharf werden ließ, weil das Unfassbare sonst noch weniger ertragbar gewesen wäre.
    Oder lag es doch an der unheilvollen Konstellation der großen Gestirne im Wassermann, Saturn, Jupiter und Mars, wie manche Gelehrte behaupteten, die sich auf die Lehren des Aristoteles beriefen? Schon das schreckliche Erdbeben im Januar, das ganz Italien erschüttert und viele Tote gekostet hatte, sprach dafür. Andere wiederum sprachen von vergifteter Luft, wieder andere von der Säfteverderbnis menschlicher Körper, die durch Schwächung und Verstopfung elendig zugrunde gingen. Die meisten Christen jedoch waren überzeugt, dass Gott, der Allmächtige, seine Kinder bestrafte, weil sie sich von ihm abgewandt und ihre Herzen in Sünde verschlossen hatten.
    Im Grunde war es ihm herzlich gleichgültig. Handelsschiffe vom Schwarzen Meer hatten im vergangenen Sommer des Jahres 1347 die Seuche nach dem Süden des Landes gebracht; seitdem fraß sie sich wie ein unaufhaltsamer Flächenbrand den italienischen Stiefel hinauf. Keine Stadt wurde verschont; auch in den Dörfern und Weilern wütete sie. Keiner hatte die Saat ausgestreut, und jetzt verfaulten die Früchte an den Bäumen, weil sich nirgendwo mehr fleißige Hände fanden, um die Ernte einzubringen. Auch er würde sterben, bald schon. Endlich! Weshalb sollte es sich lohnen weiterzuleben, nachdem seine Familie schlimmer als Vieh krepiert war?
    Es schien ihm Wunder genug, dass sein Körper bislang von Pestbeulen verschont geblieben war, dass ihn weder Schüttelfrost noch Fieberschübe heimsuchten, obwohl er alle vier Erkrankten bis zum letzten Atemzug gepflegt und dabei jede Vorsichtsmaßnahme missachtet hatte. Aber wie hätte er sie auch ihrem Schicksal überlassen können, wo es nicht einen Schnabeldoktor mehr gab, der, geschützt durch Lederumhang und Maske, nach den Kranken sah?
    Die Heilkundigen waren entweder selber tot oder wie viele der reichen Familien aus der Stadt geflohen, weil sie inzwischen einsehen mussten, dass ihre vermeintliche Kunst nicht das Geringste gegen diese schrecklichste aller Seuchen auszurichten vermochte. Seitdem es warm geworden war, starben die Menschen ohne Unterlass, Tag für Tag, Nacht für Nacht, egal welchen Alters oder Geschlechts, egal ob Kaufmann, Pfaffe oder Bettler. Venedig glich einem Totenhaus. Fremden war der Zutritt strengstens verboten. Kein Glockenläuten war mehr zu hören. Nur Scharen von Ratten auf den verlassenen Plätzen und Gassen, inzwischen frech genug, um sich sogar im hellen Tageslicht zu zeigen. Schwarz verhüllte Boote und Gondeln auf den Kanälen, die die schrecklich entstellten Leichen nach San Michele brachten, weil die anderen Friedhöfe der Stadt längst mit Massengräbern überfüllt waren.
    Hatte man anfangs noch säuberlich zwischen Reich und Arm, Männern und Frauen, Christen und Juden unterschieden, so gab es jetzt für die wenigen Abgebrühten oder Todesmutigen, die diese Arbeiten überhaupt noch ausführten, nur ein Ziel: die Kadaver so schnell wie möglich zu beseitigen. Holz für die Tausende notwendiger Särge war ohnehin nirgendwo mehr aufzutreiben. Zunächst hatte man sich noch spezieller Pestsärge mit einem Klappmechanismus bedient, durch den der Leichnam ohne viel Aufhebens ins Grab befördert, das kostbare Behältnis jedoch beliebig oft weiterverwendet werden konnte. Inzwischen begnügte man sich, die unzähligen Toten nachlässig mit Leinwand zu umwickeln und mit großen Schubkarren einfach in die Pestgruben zu kippen, wo sie mit Pottasche bestreut wurden und hoffentlich rasch verwesten.
    War die Krankheit erst einmal in einem Haus ausgebrochen, tauchten unweigerlich die von allen gefürchteten Pestbüttel auf, ein Trupp Männer, der nicht lange fackelte, missachtete man die zahlreichen Vorschriften, die vom Rat der Stadt Woche für Woche verschärft wurden. Sie schlugen jeden nieder, der sich widersetzte, schleppten die zum Kerker, die sich dabei erwischen ließen, Unrat oder Kot auf die Straßen zu schütten. Manch einer war schon leblos in den Kanälen wiedergefunden worden, ohne die verräterischen bläulichen Male, dafür jedoch mit gespaltenem Schädel oder klaffender Brust. In ihren nachtschwarzen Umhängen und mit den bis zu den Augen hochgezogenen Tüchern zum Schutz gegen Ansteckung glichen sie weniger städtischen Ordnungskräften als vielmehr einem Haufen finsterer, zu allem entschlossener Wegelagerer. Vorreiter der Hölle, so

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