Pforten der Nacht
kostbarsten Schatz hüten und bewahren würde - bis zum richtigen Zeitpunkt. Erst dann galt es zu reden, um auf einen Schlag all das zu erlangen, was sie schon so lange begehrte.
Kurz bevor das Judentor geschlossen wurde, kam Guntram atemlos vor Jakubs und Rechas Haus an. Lärm und Lachen schallten aus den offenen Fenstern, köstliche Düfte von Gebratenem und Gesottenem drangen nach draußen.
»So viel Besuch? Welches eurer Feste feiert ihr denn heute?«, fragte er Esra, der im Garten saß und auf ein paar halbgepackte Satteltaschen stierte.
»Das weißt du nicht?«
Guntram schüttelte den Kopf. Ein schmerzlicher Zug glitt über Esras Gesicht. Die Narbe des Färbers glühte, sein Hemd hing aus der Hose, sein Haar war verschwitzt. Er sah aus wie ein müder Wolf, der seine Fährte verloren hatte.
»Leas Hochzeit«, erwiderte er leise. »Sie hat Aaron zum Mann genommen. Nach der Sitte der Väter. Jetzt sitzen Verwandte und Freunde zusammen, um das Brautpaar zu feiern.«
»Das ist nicht wahr, oder?« Guntrams verunstaltete Lippen begannen unkontrolliert zu zucken. »Ein rüder Scherz, den du dir da erlaubst.« Er kam näher, packte ihn grob am Arm. »Sag sofort, dass es nicht wahr ist!«
»Ich scherze nicht«, sagte Esra. »Es ist genau so, wie ich dir sage.«
»Du lügst!« Der Griff verstärkte sich. »Du hast den Verstand verloren, ja, du musst irre geworden sein. Lea gehört mir. Mir! Ich habe sie gerettet! Ich allein.«
»Ich lüge nicht. Lea ist Aarons Frau, und wenn du sie zehnmal gerettet hast. Kein Mensch kann einen anderen besitzen, Guntram. Und jetzt lass mich gefälligst los.« Er befreite sich ungehalten. »Ich habe genug von dieser Stadt. Morgen verlasse ich Köln. Zuvor allerdings habe ich noch einiges zu erledigen.«
Guntram rannte auf die Tür zu, Esra aber war schneller und hielt ihn in einer eisernen Klammer.
»Du wirst da jetzt nicht reingehen«, sagte er drohend, »und an diesem Freudentag Unheil anrichten, selbst wenn du glaubst, nicht anders zu können. Komm endlich zur Vernunft! Was geschehen ist, ist geschehen. Sie hat einen braven Juden zum Mann genommen. Und du wirst eines Tages auch ein freundliches christliches Mädchen finden …«
»Das werdet ihr mir büßen - alle!« Guntram war feuerrot vor Zorn. Er bebte am ganzen Körper. »Ihr habt mich hingehalten, getäuscht, zum Narren gemacht. Aber ich eigne mich nicht zum Hanswurst, ich nicht, das werdet ihr lernen. Mit eurem verdammten Leben, das schwöre ich euch. Mit einem Wulfing treibt man keinen Schabernack. Und wenn doch, dann muss man die Rechnung hinterher bezahlen. Und du, Jude «, er spuckte das Wort geradezu aus, »bezahlst vor allen anderen. Ich verfluche euch. Und ich werde mich rächen - tausendfach!«
Er hob die Fäuste, stand ein paar Augenblicke zornbebend gegen das Abendrot. Dann wandte er sich um, begann loszulaufen und passierte als Letzter das Tor, das das Judenviertel gegen die Stadt Köln abschloss.
»Deus in adjutorium meum intende.
Domine ad adjuvandum me festina.
Gloria Patri, et Filio et Spirito santo.
Sicut erat in principio, et nunc et semper
et in saecula saeculorum. Amen …«
Da war die eine helle Männerstimme, die aus dem Chor herausstach und sie tiefer als alle anderen berührte. Anna wusste genau, wem sie gehörte. Es hatte sie überrascht, die braunen Kutten der Minoriten in St. Gereon zu sehen, wohin sie gegangen war, um eine frühe Zwiesprache mit Micha zu halten, dann aber hatte sie sich ganz der Musik und den lateinischen Worten der Frühmesse hingegeben.
Den Leib des Herrn in der heiligen Kommunion zu empfangen hatte sie nicht gewagt. Denn ihre Seele war ängstlich und beladen. Konnte sie denn niemals Ruhe vor Johannes finden? Gestern erst hatte sie ihn am Rheinufer getroffen, und heute sang er schon in ihrer Lieblingskirche!
Beim Hinausgehen gelang es ihr, einen kurzen Blick auf ihn zu werfen. Sie erkannte ihn am Gang, an der auffallenden Schlankheit, an der Art, wie er sich bewegte. Er dagegen schien sie gar nicht zu bemerken, hielt sich ganz nah bei den anderen, lauter braune Kutten mit Kapuzen, die tief über die geschorenen Schädel gezogen waren.
Tief in Gedanken kehrte sie nach Hause zurück. Ardin saß beim Frühstück. Flora turnte auf seinem Schoß herum und verlangte abwechselnd Milch und Brot. Hedwig hatte im Morgengrauen gebacken; der Geruch nach frischem Teig durchzog das ganze Haus.
»Du kommst spät«, sagte er und betrachtete sie aufmerksam.
»Es war
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