Pforten der Nacht
trotz aller Bemühungen nicht eindeutig herauszufinden. Der Anführer der furchterregenden Prozession war ein Mann, den sie Meister nannten, wie er mit eigenen Ohren gehört hatte; er trug auf seinen Schultern ein großes Holzkreuz voran, dem die Schar mit ihren Marterinstrumenten folgte, Stöcke, von denen drei Stränge mit großen Knoten vorne herabbaumelten, besetzt mit nadelscharfen Stacheln, länger als ein Weizenkorn. Dazu wurden teils deutsche, teils lateinische Litaneien gesungen, die um göttliches Erbarmen flehten. Paarweise, mit brennenden Kerzen in den Händen, nahmen sie jedes Mal schnurstracks den Weg zum nächsten Gotteshaus. Dort fielen sie dreimal in Kreuzesform auf die Erde nieder, eine Art Eingangsritual, wie er beobachtet hatte, dem der eigentliche Akt der Selbstbestrafung um einiges später folgte. Meistens warteten sie damit, bis es dunkel wurde.
Im Schein hastig aufgestellter Fackeln vollzog sich dann an der Geißelstatt, wie man hinter vorgehaltener Hand den Ort nannte, wo sie sich vor Schmerz und Ekstase wanden, ein seltsames Spektakel, dem Esra mehr als einmal in einer Mischung aus Faszination und Abscheu zusah. Die Geißler oder flagellantes entledigten sich ihrer Kleider bis auf ein Lendentuch, das die Scham notdürftig verhüllte, und legten sich zum Sündenbekenntnis in einem Ring auf die blanke Erde. Ihre geschundenen Rücken, voller alter, wieder aufgebrochener und neuerlich schlecht verheilter Narben sowie frischer Striemen, boten ein Bild des Grauens, was viele Zuschauer je nach Temperament zum Verstummen brachte oder entsetzt aufschreien ließ, ihnen selber jedoch vollkommen gleichgültig zu sein schien. Jetzt schritt der Meister betend über jeden Einzelnen und berührte ihn mit der Geißel.
»Steh auf durch die Ehr’ der Qual
und hüt dich fürder vor dem Sündental.«
Waren alle endlich losgesprochen, erhoben sie sich wieder, schlossen sich erneut zum Kreis und begannen sich selbst oder gegenseitig zu schlagen, bis reichlich Blut floss. Es waren ausschließlich Männer, die so hart mit sich verfuhren, wenngleich es immer wieder vorkommen konnte, dass auch Frauen sich ihnen anschlossen und den Zug in gebührendem Abstand ein Stück begleiteten. Würdige Greise waren unter den Geißlern, mit faltiger Haut, die um die ausgezehrten Leiber wie ein zu groß gewordener Umhang schlotterte, Bärtige im besten Alter, Jünglinge und zu Esras Entsetzen nicht gerade wenige Kinder mit mageren Rücken, gezeichnet wie die der Erwachsenen. Aber es gab auch finstere Gestalten, Gesichter voller Trug und Häme, mit eingeschlagenen Nasenbeinen, blutunterlaufenen Augen und Mündern, die einfach nur abstoßend wirkten, niedrigster menschlicher Abschaum, wie er sich sonst nur in der Gosse oder den übelsten Spelunken herumtrieb, grobes Bettelpack, das vor allem mitlief, weil es die beste Möglichkeit schien, einigermaßen über den Winter zu kommen.
Auf seine vorsichtigen Fragen, was das alles zu bedeuten habe, erhielt er merkwürdige Antworten.
»Sie geißeln ihr Fleisch als Erinnerung an die Passion Christi, um das große Sterben zu wenden.«
»Sie geißeln ihr Fleisch, um alle Sünder zur Umkehr zu bewegen und das Ende der Welt aufzuhalten.«
»Sie geißeln ihr Fleisch, um Gottes unendliche Barmherzigkeit auf das Menschengeschlecht herabzubeschwören.«
Spätestens dann stahl sich ob seiner Unwissenheit ein hässlicher Zug von Misstrauen in die Gesichter, und er machte, dass er schnell weiterkam, um kein unliebsames Aufsehen auf sich zu lenken.
In Innsbruck war er zum ersten Mal auf sie getroffen. Dort begegneten ihnen Rat und Magistrat zunächst mit Respekt, ja beinahe Verehrung und mit dem Angebot kostenloser Verpflegung. Als sich aber immer mehr von den hiesigen Männern der Schar anschlossen, die zudem wochenlang nicht aus den Mauern der Stadt weichen wollte, vollzog sich ein jäher Umschwung. Dazu kam, dass innerhalb des Haufens offenbar der Kampf um den Meistertitel entbrannt war. Ein jüngerer Mann, der ihn anstelle des bisherigen für sich beanspruchte, trat öffentlich auf und behauptete, Christus sei ihm erschienen und habe ihn ermutigt, in seinem Namen Wunder auf Erden zu wirken. Wenig später wurde er dabei erwischt, wie er die leeren Augenhöhlen eines blinden Jungen mit einer brennenden Haselnussrute traktierte, angeblich, um ihn wieder sehend zu machen, genauso, wie es ihm der Menschensohn befohlen habe. Zwei Tage später trieb sein wüst zugerichteter Leichnam im
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