Pforten der Nacht
eisigen Fluss; seitdem schauten Rat und Bürgerschaft zunehmend scheel auf die Geißler.
Als man ihnen weiteren Proviant verweigerte und sie zudem aus den Schrannenhallen trieb, in die sie sich zum Schlafen verkrochen hatten, verschwanden sie eines Morgens wie ein böser Spuk. Nasser, schwerer Schnee, der bald schon wieder schmelzen würde, deckte für kurze Zeit gnädig die frischen Blutspuren zu, die sie in einem letzten nächtlichen Bußfanal vor dem Domportal hinterlassen hatten.
Es war eingetreten, was man vorausgesagt hatte, ein milder Winter mit wenig Frost und bislang spärlichem Niederschlag, ein Umstand, den Esra für seine Reise zu nutzen gedachte. Außerdem hatte es ihn nicht länger in der Stadt am grünen Inn gehalten, die ihm während der kurzen Tage und der langen, dunklen Nächte immer düsterer und bedrückender erschienen war. Selbst seine Wirtin hatte inzwischen ihre anfängliche Zurückhaltung aufgegeben. Er hätte schwören können, dass sie während seiner Abwesenheit in seinen Sachen herumkramte. Und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte und er sich alles nur einbildete, so trieb es ihn doch fort von hier, weiten, offeneren Gefilden entgegen, wo man nicht befürchten musste, im Schatten mächtiger Bergmassive kaum genug Luft zum Atmen zu haben.
Jetzt, zur Winterzeit, waren kaum Wanderer oder Reiter unterwegs. Jeder, der es sich leisten konnte, verschob weitere Reisen auf das Frühjahr, am besten nach der Schneeschmelze, wo die Pfade wieder einfacher begehbar sein würden; Esra aber trieb jene unsichtbare Kraft vorwärts, der er sich nicht entziehen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Es war noch trocken und sonnig, als er im Ötztal ankam; er hatte sich in Innsbruck eine brave Stute gekauft, auf deren breitem Rücken er sich wohl fühlte. Jetzt, in zunehmend unwegsamem Gelände, versagte sie ab und zu den Gehorsam, und ihm blieb nichts anderes übrig, als abzusteigen, sie am Zügel zu führen und ihr dabei gut zuzureden. Als es steil hinauf nach Strengen ging, bockte sie immer häufiger. Allmählich begann er die Geduld zu verlieren, zerrte und zog sie nach Leibeskräften, während sie ihn aus ihren großen braunen Augen unverwandt anschaute.
In Flirsch zogen dunkle, schwere Wolken auf; es begann zu schneien. Langsam, zögernd zunächst, aber ohne Unterlass, bis alles herum mit einer glitzernden weißen Decke überzogen war. Er hatte gerade noch rechtzeitig Unterschlupf bei einer Bauernfamilie gefunden, die sich über den unerwarteten Gast zu freuen schien, noch mehr freilich über die kleinen silbernen Münzen, die der Fremde dem Vater gleich am ersten Abend zugesteckt hatte. Esra wurde in der elterlichen Schlafkammer untergebracht, die sich sogar von der darunterliegenden Stube aus heizen ließ; die Stute wurde zu den wenigen Kühen und Ziegen in den Stall gestellt. Die ersten beiden Tage genoss er das Bild der lautlos fallenden Flocken, wenn er den Holzladen vor seinem Fenster aufstieß und die kalte, klare Luft einsog. Dann jedoch überfiel ihn erneut die nagende innere Unruhe.
Der Bauer lachte nur, als er ihm sagte, er wolle weiter, zum Arlbergpass. »Das könnt Ihr freilich vergessen!« Es war alles andere als einfach, seinen Dialekt zu verstehen, obwohl er sich sichtlich anstrengte. »Es sei denn, Ihr sucht den sicheren Tod. Wenn nicht der warme Fallwind aufkommt, seid Ihr vermutlich bis zum Frühjahr unser Gast.«
Wortlos verschwand Esra in der Kammer. Gusti, das älteste Mädchen, berichtete später mit hochrotem Kopf ihrer Schwester, sie hätte ganz genau gehört, wie seine Feder wütend über das Pergament kratzte.
Vier schier endlose Wochen musste er in der dumpfen Enge ausharren, die ihm fast den Verstand raubte, bis er endlich weiter konnte. Und selbst da war die Überquerung des verschneiten Arlbergpasses ein Wagnis auf Leben und Tod. Kein anderer Wandersmann weit und breit; dafür das hohle Krächzen der Raben, die höhnisch auf ihn herabzublicken schienen. Die Stute, die er wie einen launischen Esel mal antreiben, dann wieder hinter sich herzerren musste, rutschte, kam vom Weg ab und stürzte in die Tiefe; wenige Augenblicke später glitt Esra auf einem Schneebrett aus und fand sich verwirrt, aber unverletzt viele Ellen tiefer am Fuß einer mächtigen Tanne wieder. Er hatte einen großen Teil seines Gepäcks verloren, seine wertvollsten Schätze jedoch zum Glück unversehrt behalten. Ab jetzt war er vorsichtiger, prüfte jeden Schritt, bevor er ihn setzte, was
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