Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
Vom Netzwerk:
sie musste diese Frage stellen.
    »Im Brunnen?«
    Der Aufschrei kam von Jan, der sofort hinausstürzte und kopfschüttelnd wiederkehrte. Steif wie ein alter Mann ließ er sich auf die Bank fallen. »Dem, der daran schuld ist, brech ich das Genick«, murmelte er dumpf.
    Die Morgensonne kroch zögernd in den großen Saal. Es stank nach Wein, Essensgerüchen, abgestandenem Schweiß. Und nach Angst. Jeder konnte sie riechen.
    Plötzlich öffnete sich langsam die Tür. Eine große, schlanke Frau im grauen Beginenkleid trat ein, das Haar mit einem Schleier verhüllt. An ihrer Hand ein blonder Dreikäsehoch mit wirrem Lockenschopf, in dem reichlich Stroh klebte. Ein schmutzstarrendes Kittelchen. Ein strahlendes, unbekümmertes Lächeln.
    »Felix!« Jan sprang auf, riss ihn an sich, drückte ihn so fest an seine Brust, dass der Kleine unwillig zu strampeln begann. »Wo bist du nur gewesen? Wir sind vor Sorge um dich beinahe gestorben!«
    »Ich habe ihn schlafend auf den Stufen der Minoritenkirche gefunden«, sagte Regina Brant, »als ich zur Morgenandacht gehen wollte. Und sofort als Euren Jüngsten erkannt. Es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, dass er dort mutterseelenallein war, zumal zu dieser Stunde. Da dachte ich, hier bei Euch wäre er sicherlich besser aufgehoben.«
    »Und wie ist er dorthin gekommen?«, fragte Rutger.
    »Das könnt vermutlich nur Ihr mir verraten«, erwiderte Regina kühl. »Oder wir fragen den kleinen Mann am besten selber. Falls es Euch gelingt, ihn zum Sprechen zu bringen. Ich hatte bisher wenig Glück damit.«
    »Wie bist du zur Kirche gekommen, Felix? Wer hat dich dorthin gebracht?« Jans Stimme klang zärtlich und behutsam.
    Die Kinderaugen weiteten sich. Dann legte Felix in einer verschwörerischen Geste den Zeigefinger auf die Lippen, so wie er es wohl von den Erwachsenen abgeschaut hatte. Kein Wort kam über seine Lippen, sosehr sie auch in ihn drangen. Kein Name. Und wie hätte er mit den paar Silben, die er beherrschte, auch ernsthaft antworten können?
    Regina beeilte sich, wieder zurück zum Konvent zu kommen. Sie schritt so beherzt aus, dass ein paar hungrige Katzen auf Futtersuche augenblicklich davonstoben und sich in der nächsten Einfahrt versteckten. Am liebsten hätte sie sich von Kopf bis Fuß mit klarem Wasser abgeschrubbt. Der Aufenthalt in diesem Haus beschwor Erinnerungen in ihr herauf, die sie lieber für immer vergessen hätte. Nicht viel hätte gefehlt, und Jan van der Hülst wäre damals in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, und er hatte dafür gesorgt, dass Anna ihr Haus an Hermann Windeck verloren hatte. Sie hatte es niemals vergessen und er ebenso wenig. Deshalb hatte sie auch mit eisiger Höflichkeit das Goldstück zurückgewiesen, das er ihr zum Dank zustecken wollte.
    »Kinder sind ein Geschenk Gottes«, sagte sie, »vielleicht das kostbarste von allen. Und daher unbezahlbar. Außerdem arbeiten wir Beginen seit jeher für unseren Lebensunterhalt und brauchen daher keine Almosen. Von niemandem! Verteilt Eure milde Gabe lieber an die Armen. Da ist sie besser angelegt.«
    Draußen aber drückte sich ein kräftiger Mann mit verhülltem Haupt gegen die Mauer. Ein boshaftes Lächeln verzerrte seine unschönen Züge. Die nächtlichen Zusammenrottungen der letzten Tage waren ganz nach seinem Geschmack gewesen. Und noch besser gefiel es ihm, wenn ein hübsches Feuerchen dabei loderte. Am interessantesten von allem allerdings war die Frau in Grau gewesen, die am frühen Morgen hier erschienen war.
    Guntram spitzte die Lippen und begann zu pfeifen, eine Melodie, die er vor Kurzem ersonnen hatte. Auch die passenden Worte dazu kannte nur er allein. Und das sollte auch so bleiben.
    Zumindest bis auf Weiteres.
    »Und der Wolf schleicht ums Haus, der Wolf schleicht ums Haus …«

Dreizehn
    Es wurde geraunt, sie kämen von irgendwoher aus dem Osten des Reiches. Jedenfalls wurden sie im Herbst des Jahres 1348 zum ersten Mal in der Steiermark gesichtet, begleitet von schrecklichen Unwettern, die die gesamte Wein- und Getreideernte der Region vernichteten. Von dort aus zogen sie in unberechenbaren Schleifen gen Westen. Esra ben Simon kreuzte bei seiner langen Reise nach Köln unfreiwillig mehr als einmal ihre Spur: Rotten merkwürdiger Gestalten in zerlumpten Umhängen, mit hohen Filzhüten, auf die in brennendem Rot das Zeichen des Kreuzes gemalt war. Näherten sie sich einer Stadt, so begannen die Glocken Sturm zu läuten; ob zur Begrüßung oder als Warnung, gelang ihm

Weitere Kostenlose Bücher