Pforten der Nacht
freilich dazu führte, dass er um vieles langsamer vorankam. Er spürte, wie er immer schwächer wurde; seine Nase lief, der Hals brannte. Bis Bludenz schaffte er es mit letzter Kraft.
Dort verfehlte Esra die Geißler nur um wenige Tage; sie waren bereits abgezogen, als er die Stadt erreichte, in der eine seltsame Unruhe herrschte, die er gleich bemerkte. Er konnte sich nicht darum kümmern. Er fieberte, hatte schwere Glieder, fühlte sich todmüde und abgekämpft. Notgedrungen musste er eine längere Rast einlegen, obwohl die Stimme in ihm, die ihn nach Köln rief, ständig dringlicher wurde. Noch immer in der Verkleidung des italienischen Gelehrten, verkroch er sich zum Gesundwerden in einer der besseren Herbergen vor Ort, ein fast zu schmeichelhafter Begriff für den schmutzstarrenden, verwanzten Gasthof, dessen Besitzer sein mürrisches Verhalten erst änderte, nachdem er ihm ein paar schwere Silberlinge in die Hand gedrückt hatte. Wie von Zauberhand war plötzlich frisches Stroh für die Bettstatt zur Hand, ausreichend fette Markknochen, um zweimal am Tag eine kräftigende Brühe zu bereiten, und als der langsam Genesende, der schon begonnen hatte, sich vor sich selber zu ekeln, den Wunsch nach einem großen Zuber mit heißem Wasser äußerte, ließ sich auch dies überraschend flugs bewerkstelligen.
Esra vergewisserte sich mehrmals, dass niemand zusehen konnte, bevor er sich seufzend hineingleiten ließ. Die Wärme entspannte seine Muskeln, ließ ihn ganz träge werden und schließlich wohlig einnicken. Er erwachte davon, dass eine Tür hart zufiel, fuhr sofort auf und bedeckte sich rasch mit einem Tuch.
Zu spät, wie er noch am selben Abend erfahren sollte.
Wie zufällig drängte sich die dralle Magd, die immer sein Essen serviert hatte, in der Gaststube gegen ihn. Ihre Jugend lag lange zurück; was von einstigem Liebreiz noch übriggeblieben war, waren schwere, milchweiße Brüste, die der Ausschnitt kaum verhüllte, und ein voller Mund, der noch immer anziehend gewesen wäre, hätten ihn nicht scharfe, schmutzige Falten gerahmt.
»Ihr solltet machen, dass Ihr weiterkommt, Herr«, raunte sie vielsagend. »In Eurem ureigensten Interesse.«
Esra hob erstaunt die Brauen.
»Seitdem die Geißler in der Stadt waren, ist man hier auf Juden ganz besonders schlecht zu sprechen. In Bregenz brennen sie bereits.«
»Und weshalb?«
»Weil sie angeblich die Brunnen vergiftet haben.« Sie schniefte vernehmlich. »Um allen das große Sterben zu bringen. Dabei ist dort noch kein Einziger an der Pest erkrankt. Ebenso wenig wie in Rorschach und Reutlingen, wo man nicht einmal die Frauen und Säuglinge der Israeliten verschont hat. Aber auch dort haben die Flagellanten ihr Unwesen getrieben, wüste Reden geschwungen, in ihren Liedern gegen die Mörder Christi gehetzt, die jetzt gemein und hinterlistig alle anderen Christen töten wollen. Das weiß ich alles von meiner Base. Und die hat es mit eigenen Augen gesehen und gehört. Wenn Euch also Euer Leben lieb ist, dann sucht schnellstens das Weite!«
Er blieb äußerlich ganz ruhig, trank einen Schluck Wein, machte ein unbewegtes Gesicht. In seinem Inneren aber vollzog sich ein Sturm. Den ganzen Abend lang bediente sie ihn, ohne ein weiteres Mal auf dieses Thema zu sprechen zu kommen, und als er vor dem Schlafengehen nach ihr sehen wollte, um sie nochmals zu befragen, war sie verschwunden.
Esra war der Erste, der in der Morgendämmerung die Stadt verließ, schnellen, aber festen Schrittes. Es dauerte Tage, bevor ihm die einzig entscheidende Frage einfiel, die er ihr eigentlich hätte stellen müssen: Wie um alles in der Welt sie als fromme Christin den Unterschied zwischen einem nackten Juden und einem nackten Christen dermaßen exakt bestimmen konnte.
Er musste also noch vorsichtiger sein. Und er wurde es. Er reiste mit einem frischen Pferd weiter, um schneller voranzukommen, obwohl er damit rechnen musste, dass ein Reiter mehr auffiel. Sagte selber so wenig wie möglich, um sich nicht zu verraten, aber sperrte die Ohren weit auf, um zu hören, was die Leute zu berichten wussten. Unmöglich, draußen zu übernachten. Das hätte den sicheren Tod bedeutet. Es war inzwischen Februar und sehr kalt, obwohl die Tage zögernd länger wurden und die unaufhaltsame Rückkehr des Lichts deutlich ahnen ließen. Das war immer seine Lieblingszeit im Jahr gewesen, seit er denken konnte - Purim, das Losfest, ein Tag der Freude und Heiterkeit für die ganze Gemeinde, mit festlicher
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