Pforten der Nacht
ängstliches Gefühl in seiner Brust wurde schon nach wenigen Schritten zur schrecklichen Gewissheit.
Er war in eine Totenstadt gekommen. Hier gab es keinen einzigen Lebenden jüdischen Glaubens mehr.
Walram von Jülich war wieder einmal in jener zwiespältigen Stimmung, die jeden Augenblick umschlagen konnte, wie so oft in den vergangenen Monaten. Vergeblich hatte Kustos schon den ganzen Nachmittag lang versucht, ihn aufzuheitern oder zu besänftigen, dabei jedoch nichts bewirkt, sondern eher das Gegenteil erreicht. Es war in letzter Zeit immer schwieriger geworden, mit dem geistlichen Kurfürsten auszukommen. Beinahe, als ob ihn ein heimliches Leiden plage, das ihn von Tag zu Tag noch grauer und griesgrämiger werden ließ. Dabei war der Besuch des neu gewählten Königs Karl IV. vor ein paar Tagen in der Stadt ein großer Erfolg gewesen, nicht nur für Köln, dem er großzügige Rechte eingeräumt hatte - von der Erneuerung des Stapelrechts über das Messeregal bis zur Billigung außenpolitischer Souveränität -, sondern auch und gerade für den Erzbischof, der nicht ein Jota von seinen zahlreichen Privilegien abgeben musste und ein Dutzend neue dazubekam.
Walrams Stimmung verbesserte sich erst, als Bruno de Berck im erzbischöflichen Palast auftauchte, gefolgt von Johannes van der Hülst, was Kustos augenblicklich mit Stirnrunzeln aufnahm. Bruno übersah es. Er hatte schließlich gute Gründe, den jungen Mönch aus seiner ständigen Versenkung zu lösen.
»Endlich!« Walram erhob sich schwerfällig, um die beiden Franziskaner zu begrüßen. »Und welche Nachrichten bringt Ihr mir?«
Die Miene des Minoriten war bedrückt. »Leider alles andere als erfreuliche. Man könnte meinen, die Menschheit sei dabei, den Verstand zu verlieren«, sagte er leise. »Wisst Ihr, was sie in Straßburg angestellt haben? Metzger und Kürschner haben das Münster mit Waffengewalt besetzt, um Druck auf die Stadtväter auszuüben. Anlass war der Besuch des Bischofs und einiger Ratsherren bei einem Juden. Man zwang den Vorsitzenden des Rats, der gewagt hatte, die Juden zu verteidigen, seinem Amtseid zu entsagen, Siegel und Schlüssel der Stadt in ihre Hände auszuliefern. Jetzt sitzen im neu gewählten Rat vier der Aufrührer, darunter zwei Fleischergesellen.«
»Schrecklich«, sagte Walram und sah auf einmal noch bleicher und erschöpfter aus. »Nicht einmal vor Gottes eigenem Haus schrecken sie zurück - was sich der Pöbel auf einmal alles herausnimmt! Ich werde ganz krank bei dem Gedanken, dass solche Zustände bald auch schon bei uns herrschen könnten!«
»Das jedoch, Eminenz, ist beileibe noch nicht alles«, fuhr de Berck fort. »Die neuen Machthaber ließen alle Juden zusammentreiben und in einen alten Stall schleppen, der später angezündet wurde. Als die Unglücklichen durch den Pöbel geschleift wurden, riss man ihnen die Kleider vom Leib, weil man versteckte Silberlinge bei ihnen vermutete. Außerdem soll es eine ganze Reihe Vergewaltigungen schutzloser Frauen gegeben haben, die anschließend ebenfalls ermordet …«
»Schweigt!« Walram war aufgesprungen, hielt sich den Kopf mit beiden Händen. »Es ist genug!«
»Das kann ich nicht.« De Bercks Stimme war fest. »Noch nicht. Denn Ihr müsst auch erfahren, dass in Worms das ganze jüdische Viertel in Flammen aufgegangen ist und eine Reihe prachtvoller Bürgerhäuser in unmittelbarer Nähe gleich mit dazu. Mehr als vierhundert Menschen sollen dabei den Tod gefunden haben. Kaum anders in Freiburg, wo nur eine Handvoll Getaufter verschont wurde. Und in Speyer haben sich die Hebräer in ihren eigenen Häusern verbrannt, um den Häschern nicht lebend in die Hände zu fallen.«
Jetzt hielt es Kustos nicht mehr an seinem Platz.
»Und wenn schon!«, rief er zornentbrannt. »Umso besser, sage ich! Wer soll sich schon darum scheren? Warum sind sie auch so verblendet? So hartherzig und damit jeder göttlichen Gnade verschlossen? Es liegt doch klar auf der Hand, dass Christus allein der zweite Adam ist, der die Sünde des ersten durch seinen Kreuzestod getilgt hat! ›Dem Zeitalter des Gesetzes folgt das Zeitalter der Gnade.‹ Das steht schon bei den Kirchenvätern geschrieben. Sie aber halten unbelehrbar an ihrem Irrglauben fest.« De Berck machte Anstalten, ihn zu unterbrechen, aber er ließ es nicht zu. »Deshalb ist es nur zu verständlich, dass das fromme Volk endlich gegen sie aufbegehrt, gegen ihren Wucher, mit dem sie uns schinden, gegen ihre merkwürdigen
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