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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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nichts mehr hören und sehen zu müssen. So aber zwang sie sich, wenigstens das Nötigste zu tun, obwohl jeder einzelne Schritt unermessliche Mühen kostete und vieles trotzdem unerledigt liegen blieb. Sonne und Lachen waren aus ihrem Leben verschwunden und mit ihnen der Schwung, mit dem sie früher ihre anstrengende Arbeit angegangen war. Die dunkle, nasskalte Jahreszeit, die sie seit jeher gehasst hatte, hätte nicht besser zu der lähmenden Finsternis in ihrem Inneren passen können. Sie vermisste Leonhart, obwohl sie ihn nicht geliebt hatte; noch schlimmer aber war die Gewissheit, dass so vieles zwischen ihnen ungesagt bleiben musste.
    Immer wieder stand dieser eine letzte Tag vor ihrem inneren Auge, mit all dem heimlichen Zwist, ihrem Hadern, den bösen, hässlichen Gedanken, für die sie ihn nun niemals mehr um Verzeihung bitten konnte. Sie war einfach weggerannt, wie ein trotziges Kind, das sich in haltlose Fantastereien flüchtete, hatte Leonhart genau da allein gelassen, als er sie am meisten gebraucht hätte. Manchmal erschien ihr alles ganz unwirklich, wie ein böser Traum, aus dem sie hoffentlich bald erwachen würde. Aber seitdem sie Leonharts Sarg in die feuchte Erde gesenkt hatten, gab es für sie kein tröstliches Erwachen. Nichts war so wie bisher, Anna auf einmal keine ehrbare Meistersfrau mehr, die in der Obhut ihres Mannes ungehindert schalten und walten konnte, sondern eine Witwe, die man hemmungslos begaffte, so ihr Eindruck, und der jeder am liebsten etwas angeschafft hätte. Kaum besser als Freiwild, dachte sie manchmal bitter, über dem schon hungrig die Raubvögel kreisten. Reif zum raschen Erlegen für den nächstbesten Jägersmann.
    Sie merkte es an tausenderlei kleinen Dingen, jeden Tag ein bisschen mehr, als ob sie ständig etwas von ihrem früheren Schutz verlöre. Daran, dass der Nachbar sich auf einmal erdreistete, den vereinbarten Preis für das Hofgrundstück nachträglich heraufzusetzen. Eine mündliche Absprache zwischen ihm und dem Verstorbenen, wie er frech behauptete. Von der sie, die Frau, natürlich keine Ahnung haben könne. Oder dass nun keiner der Kunden mehr daran dachte, die Außenstände einigermaßen zügig zu begleichen, die Leonhart stets so großherzig gehandhabt hatte. Es war schwierig genug gewesen, die versprengten Posten überhaupt halbwegs exakt zusammenzutragen, und Anna dankte bei diesem schwierigen Geschäft noch einmal voller Inbrunst für die Lektionen in Rechnen auf den Zeilen, die Regina ihr vor vielen Jahren gegen Hillas erbitterten Widerstand hatte zuteil werden lassen.
    Sie merkte es an der Art, wie die Gesellen in der Wasserwerkstatt die Köpfe zusammensteckten, wenn sie vorüberging, und nicht einmal Anstalten machten, ihre Zoten leiser zu reißen. Beziehungsweise an der überheblichen Art, die sie an den Tag legten, wenn sie wagte, an ihrer Arbeit auch nur ein Quäntchen zu bemäkeln. Zum Glück hatte sie wenigstens Vinzenz, den Altgesellen, der ihr dabei einigermaßen loyal zur Seite stand, aber auch in seinem Verhalten gab es etwas unterschwellig Anmaßendes, das sie sehr schnell in Rage bringen konnte. Außerdem wusste sie nur zu gut, welche Gründe ihn eigentlich bewegten, sich ihr genehm zu machen. Er war ein Hagestolz, ein langer, dürrer Junggeselle mit schlechtem Atem, schwieligen Händen und schütterem Haar, der es mit seinen mehr als vierzig Jahren bislang weder zu einem Meisterstück, geschweige denn zu einer Ehefrau gebracht hatte.
    Und wenn sie doch noch einen Zweifel gehabt hätte, der Besuch des Zunftmeisters im Haus »zum Bogen«, wenige Tage nur nach dem Begräbnis, räumte unmissverständlich damit auf. Er hatte ihr deutlich gezeigt, wie ihre Lage wirklich war. Erschienen war er in Begleitung zweier weiterer Meister, als bräuchte es gleich ein männliches Dreigestirn, um ihr, dem unwissenden Weib, die Sache von Anfang an klarzumachen.
    »Ihr kennt unsere Vorschriften, Anna Ardin?« Sein Ton verriet, dass er eigentlich nicht so recht daran glauben mochte.
    Anna bewegte zustimmend den Kopf, erschöpft von durchweinten Nächten und seinem aufgeblasenen Gehabe, das ihr schon jetzt zuwider war.
    »Aber Ihr seid vermutlich nicht darüber informiert, dass Euch vom Zeitpunkt der Bestattung an exakt zwölf Monate bleiben«, fuhr er fort. »Einen Aufschub über dieses eine Jahr hinaus gibt es nicht. Heiratet Ihr in dieser Zeit keinen Gerbermeister, der dieses Gewerk in bestem Treu und Glauben übernimmt, so fällt die Meisterstelle an

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