Pforten der Nacht
Kinder, die brav dabeistanden und keinen Mucks von sich gaben, war genug. Aber wussten sie nicht, was sie taten? Dass sie sich und die Ihren der Lächerlichkeit preisgaben? Dass sie ausgerechnet die Brüder und Schwester derer zum Lachen verleiteten, die ihnen ebendiese Schandtaten zugefügt hatten? Dass sie ihnen damit schon die Rechtfertigung gaben, sich alsbald wieder so und noch schlimmer gegen sie aufzuführen?
Dass sie selber die Nächsten sein könnten?
Er konnte nicht abwarten, bis das in seinen Augen schauerliche Spektakel zu Ende war. Noch bevor sich der Graubart mit der Sammelbüchse auch ihm nähern und mit weinerlicher Stimme zu einer milden Gabe auffordern konnte, nahm er Reißaus.
Seine Kehle brannte. Und in seinem Herzen wütete wilder Aufruhr, der sich auch nicht legen wollte, als er das Haus seines Onkels im jüdischen Viertel erreicht hatte, wo Recha ihre köstliche Suppe auftischte. Seine Lippen sprachen die Gebete, und er antwortete anschließend beim Essen, wenn man ihn anredete. Seine Gedanken aber drehten sich ruhelos im Kreis.
Bis zu diesem Tag war er immer stolz darauf gewesen, ein Jude zu sein. Einer vom auserwählten Volk des Herrn. Dieser frostige Morgen aber hatte den Keim des Zweifels in ihn gesenkt und viele unlösbare Fragen aufgeworfen.
Zwei
Das Mädchen war über den Berg. Endlich. Regina Brant erhob sich mit steifen Knien und trat ans Fenster. Regentropfen schlugen an das dicke Bleiglas, das die Kälte einigermaßen abhielt, aber selbst wenn es trocken gewesen wäre, hätte sie draußen nichts erkennen können. Es war noch vor Sonnenaufgang, und die Stadt lag eingehüllt in dicke, graue Winterdämmerung. Sie mochte die dunkle Jahreszeit ebenso wenig wie ihre Nichte Anna, die erst wieder auflebte, wenn es draußen warm und hell war und die langen Tage nicht zu Ende gehen wollten. Glücklicherweise waren sie hier wenigstens gegen die Überschwemmung halbwegs gut gerüstet, die andere Stadtteile in Angst und Schrecken versetzt hatte. Das Domizil der frommen Frauen lag leicht erhöht; trotzdem wurde alles Wertvolle nach oben in Sicherheit verbracht und der Keller vorsichtshalber geräumt.
Sie warf noch einen Blick auf das spitze Gesichtchen mit den roten Pusteln, die auch den mageren Körper bedeckten, der jetzt in einem sauberen Hemd mit langen Ärmeln steckte. Scharlach war keine Krankheit, mit der zu spaßen war, und sie grassierte schon seit Wochen in Köln und seinem Umland. Hohes Fieber gehörten dazu, furchtbare Halsschmerzen, eine himbeerfarbene Rötung des Schlunds und jener besonders gefährliche Flüssigkeitsverlust, der zu einem raschen Ende führen konnte, falls man ihn zu spät erkannte. Zum Glück war Anna mit dem Mädchen gerade noch rechtzeitig gekommen. Zwei Tage und zwei Nächte hatten sie abwechselnd bei der kleinen Bettlerin gewacht; ihre mageren Waden mit kalten Wickeln gekühlt, ihr heiße Getränke eingeflößt, die Pein im Hals mit starkem Kräutersud und ihren selbst gemachten Salbeipastillen zu stillen versucht. Ihre Bemühungen waren erfolgreich gewesen. Der Atem ging gleichmäßiger; auf der glatten Stirn stand kein Schweiß mehr. Das Fieber war deutlich gefallen. Bei entsprechender Kost würden sich auch die eingefallenen Wangen wieder füllen und die matten Augen zu glänzen beginnen. Vermutlich wäre es das Beste, die Kleine noch einige Zeit hierzubehalten und gründlich auszukurieren, anstatt sie hinaus in Kälte und Regen zu scheuchen, wo sie alsbald einen Rückfall erleiden würde.
Zumindest diese eine Seele, wenn sie schon für so viele andere Notleidende nichts tun konnte!
Am liebsten hätte sie die Krankenstube mit den paar Betten zu einem richtigen Hospital ausgebaut, aber dafür fehlten Platz und Mittel. Außerdem war es ein gefährliches Geschäft, mit dem man heutzutage schnell in üble Nachrede kommen konnte, egal, ob die Leute zu schnell gesundeten oder vom Tod dahingerafft wurden. Jeder, der in diesen Zeiten öffentlich Heilkunde betrieb und weder ein Mann noch ein angesehener Medicus war, musste damit rechnen, nur allzu schnell mit bösen Mächten in Verbindung gebracht zu werden.
Vor der Tür traf sie die übereifrige Novizin, die niemals mehr als ein paar Stunden schlief und sich nicht einmal vor den niedrigsten Diensten drückte. Früher hatte das Aufnahmealter von Frauen in die fromme Gemeinschaft bei dreißig Jahren gelegen; inzwischen war man übereingekommen, dass jede Anwärterin beim Eintritt mindestens achtzehn sein
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