Pforten der Nacht
dass du Angst bekommen hast. Aber jetzt bist du ja in Sicherheit, meine Lea! Ich bin ihnen unterwegs begegnet. Mehr als einmal. Es ist erschreckend, Menschen so zu sehen.«
»Das ist es nicht!« Lea fuhr zu ihm herum. »Von mir aus können sie sich martern, aber weißt du, was sie singen? Sie fordern die Christen auf, sich uns zu greifen. Und die ganze Stadt steht da, glotzt und hört ihnen aufmerksam zu!«
Ihre Stimme zitterte, als sie die Melodie wiedergab, wurde hohl und dünn.
»›Schneidet die Juden und brennet sie, denn sie sind alles Übels Grund. Würgt sie und rädert sie, denn mit ihnen wird kein Christ gesund. Schlaget auch der Juden Kinder, denn das werden alsbald die größten Sünder. Packt sie. Jagt sie! Schlagt sie. Ohn’ Erbarmen. Denn es trifft keinen Armen …‹«
Lea hielt inne, schüttelte sich vor Abscheu. Jetzt klang sie zornig.
»Dann sind sie losgelaufen. Wie ein einziger Mann! Ich konnte gerade noch in der nächsten Hofeinfahrt verschwinden. Ein paar aber waren schon hinter mir her, haben mir die Kraxe weggerissen, mich gepackt, zu Boden geworfen. Und wenn mein Rock dabei nicht nach oben gerutscht wäre und das hässliche Gestell entblößt hätte …«
Ihr Schluchzen wurde stärker. Dass sie auch Guntram mitten in der entfesselten Menge gesehen hatte, behielt sie trotz ihrer Erregung wohlweislich für sich. Ein Rest von Dankbarkeit für den damaligen Retter in der Not war noch immer in ihr, auch wenn sie froh war, dass er ihr nicht länger auflauerte, seitdem sie Aarons Frau geworden war. Es genügte schon, dass Recha seit Langem kein gutes Haar an ihm lassen wollte. Sie musste nicht noch weiter Öl ins Feuer gießen.
»›Sie ist lahm, du Hundsfott‹, hat der eine zum anderen gesagt«, fuhr sie mit bebenden Lippen fort. »›Hast du keine Augen im Kopf? Und schwanger noch dazu. Willst du dich an einem trächtigen Krüppel vergreifen, und wenn sie zehnmal eine gottverdammte Jüdin ist? Oder sollen wir Nägel mit Köpfen machen und ihr das Balg gleich jetzt aus dem Leib prügeln?‹«
Die Erinnerung daran war zu viel für sie. Sie wurde totenbleich, verdrehte die Augen, griff sich an den Hals, um das hochgeschlossene Kleid zu lockern.
Dann sank sie ohnmächtig auf den frisch gefegten Ern von Rechas Küche nieder.
Anna wurde blass und stumm, als er ihr von dem Vorfall erzählte. Esra war seit seiner Rückkehr schon einige Male bei ihr im Gerberhaus gewesen, auch wenn es nur für ein paar Augenblicke war und er die scheelen Blicke der alten Hedwig, die mürrischen von Vinzenz und die gehässigen der anderen Gerbergesellen, die ihn streiften, sehr wohl bemerkte. Die Einzige, die sich ehrlich über sein Kommen zu freuen schien, war die kleine Flora, die ihm sofort um den Hals fiel und nicht müde wurde, ihn zu einem ihrer fantasievollen Spiele überreden zu wollen. Aber heute schickte er sie trotz des schwülen Augustabends gleich nach der Begrüßung sanft, aber nachdrücklich nach draußen. Was er mit Anna zu bereden hatte, war nicht für kindliche Ohren bestimmt.
»Ich habe sie auch gesehen und gehört«, erwiderte sie schließlich. »Heute Morgen, auf dem Heumarkt. Es müssen Dutzende sein, die dort lagern, weit mehr als hundert! Alle sagen, dass sie heute Nacht ihre Geißelstatt errichten. Mitten auf dem Domplatz, damit die ganze Stadt zusehen kann. Was wollen diese Männer, Esra? Uns retten? Oder erlösen? Mir flößen sie nur Angst und Grauen ein!«
»Das fragst du mich - den Juden?« Seine Stimme klang wehmütig. »Eines aber weiß ich gewiss: Ihre Saat ist giftig. Wenn sie aufgeht, schlägt für uns Juden die letzte Stunde. Selbst wenn die Geißler dann schon längst weitergezogen sind.«
»Ich weiß«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe alles gelesen.«
Sie verriet ihm nicht, wie viele Abende sie das gekostet hatte und wie viele Tränen, nicht nur wegen seiner großen inneren Not, die ihr sehr zu Herzen ging. Sondern auch, weil es ihr anfangs aus mangelnder Übung so schwergefallen war, seine steile, hohe Schrift zu entziffern, und sie sich wieder so dumm und unwissend gefühlt hatte wie früher als kleines Mädchen. Dann aber hatten Esras Aufzeichnungen sie nicht mehr losgelassen, über das fürchterliche Sterben von David, Salome, Jesaja. Über Noomis und Noahs Tod. Seine Reise über die Alpen, die Wintermonate in Innsbruck, die gefährliche Passüberquerung, bis er endlich den Bodensee erreicht hatte. Krankheit und langsame Genesung. Die Flucht aus Bludenz. Und
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