Pforten der Nacht
vor dem Sturm. Es gärte in der Stadt, und das nicht nur des drückenden Wetters wegen, das alle an den Rand der Erschöpfung trieb. Seit Menschengedenken hatte es nicht so viele Wirtshausraufereien gegeben, so zahlreiche Diebstähle und Raubüberfälle, und selbst die Klingelbeutel in den Kirchen waren vor gierigen Händen nicht mehr sicher. Dazu kamen die schändlichen Anschläge eines bislang noch immer nicht gefassten Feuerteufels, der sein Unwesen trieb. Mal brannte ein Schuppen nahe dem Judenviertel nieder, dann wieder ging eine Lagerhalle Jan van der Hülsts in Flammen auf, in der man kostbare italienische Brokate als Zwischenstation vor dem Weiterversand nach Antwerpen gestapelt hatte. Nur ein paar Eingeweihte wussten, dass bei dieser Gelegenheit auch einige Kisten mit nagelneuen Chronometern aus der Toskana zu Asche geworden waren. Bislang hatten rasche Löscharbeiten zwar eine weitere Ausbreitung des Feuers in der Stadt vermeiden können. In den unerträglich schwülen Sommernächten freilich, wo viele keinen Schlaf fanden, fragte sich allerdings mehr als einer bangen Herzens, wie lange noch.
Recha, selig über Esras unerwartete Rückkehr, war noch ängstlicher als sonst und hätte ihre Familie am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus gelassen. Das galt besonders für Lea, die in drei Monaten ihr erstes Kind erwartete. Die anfängliche Freude darüber war längst tiefer Besorgnis um das Leben der werdenden Mutter und des Ungeborenen gewichen; sie wurde nicht müde, ihre Nichte von früh bis spät mit Diät-, Gesundheits- und Verhaltensvorschriften aus dem Talmud zu traktieren.
»Bloß keinen Senf«, rief sie voller Entsetzen, als sie Lea wie gewöhnlich nach dem Töpfchen greifen sah, »sonst wird dein Kind ein unersättlicher Fresser! Und wenn du zu viel Kresse abbekommst, brauchst du dich später über Triefaugen nicht zu beklagen. Dagegen kann reichlich Fisch nicht schaden. Der macht den Kleinen stark und gesund. Also, nimm ruhig noch ein großes Stück. Schließlich isst du ja jetzt für zwei!«
»Aber nicht für fünf! Wenn ich so weitermache, könnt ihr mich in ein paar Wochen spielend rollen«, wehrte Lea lächelnd, aber entschieden ab. »Das heißt, falls ich dann überhaupt noch in ein Fass passe!«
Sie hätte singen können vor Freude und tanzen gleich dazu. Endlich war eingetreten, wonach sie sich so gesehnt hatte: Sie war nicht länger eine Außenseiterin, auf die man zeigte oder die man mitleidig belächelte, sondern eine angesehene Ehefrau, wie all die anderen ihres Alters, die nun zudem auch noch Mutter wurde. Es gab Tage, da vergaß sie ihr lahmes Bein beinahe. Aaron liebte sie, wie sie war, und sie hatte mit der Holzschiene inzwischen beachtliche Fortschritte gemacht. Jetzt freilich, wo es so drückend war, behinderte sie das harte Ding nur noch. Ihre zarte Haut war an Wade und Schienbein vom ständigen Reiben schon ganz wund geworden; trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, nach wie vor leichte Arbeiten in Haus und Garten zu übernehmen und nach Möglichkeit Besorgungen überall in der Stadt zu erledigen.
»Wenn ich von morgens bis abends in der Stube herumsitze, werde ich erst recht trübsinnig«, wischte sie Rechas Besorgnisse energisch beiseite. »Schwangere brauchen Licht, Luft und vor allem fröhliche Bewegung. Sonst bringen sie nämlich schimmelige Kohlköpfe ohne Nase und mit drei Augen zur Welt!«
Esra staunte über die Entwicklung, die seine Schwester während seiner Abwesenheit gemacht hatte. Einen starken Willen hatte Lea schon immer besessen, aber sie war trotz allem ein stilles, eher verträumtes Kind gewesen. Nun war sie zu einer selbstbewussten jungen Frau herangereift. Aarons Liebe hatte sie sicher werden lassen, und manchmal verteilte sie jetzt so kluge, schlagfertige Antworten, dass sogar ihm die Argumente ausgingen. Auf der anderen Seite besaß sie noch immer die Fähigkeit, genau zu spüren, was in den Herzen der Menschen vor sich ging.
Als sie ihn nach Noomi und Noah fragte und ihm die Stimme brach, weil ihn der Albtraum seiner Erinnerungen überfiel, schloss sie ihn in die Arme.
»Irgendwann wirst du mir alles erzählen«, sagte sie und wiegte ihn, als sei sie die Mutter und er das Kind. »Lass dir einfach noch ein bisschen Zeit! Aber du musst wissen, Esra, dass selbst das Furchtbarste seinen Schrecken verliert, sobald man es ausspricht. Das hat mich mein Bein gelehrt. Seitdem fürchte ich mich vor nichts mehr, nicht einmal vor dem Tod.« In einer anmutigen
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