Pforten der Nacht
noch eine Rolle spielte!
Felix schaute ihn mit seinen großen, lichtblauen Augen aufmerksam an und strahlte zurück. Dann wurde sein Gesicht ganz ernst. Neugierig streckte er seinen rundlichen Zeigefinger aus und führte ihn an die wulstige Hasenscharte.
»Aua«, sagte er nachdenklich. »Aua?«
Die sanfte Berührung war unerträglicher als jeder scharfe Schmerz. Guntram ließ das Kind fallen, als hätte er sich an ihm verbrannt, was Felix nur kurz zu verdutzen schien. Er verzog sein Gesicht, vergoss ein paar empörte Tränen. Nach wenigen Augenblicken schon hatte er sich wieder gefasst und jagte jauchzend einer Maus hinterher, die zwischen den Ballen um ihr Leben flitzte, freilich jedoch, ohne sie zu erwischen. Er schien hungrig zu sein. Aß ohne Widerrede Brot und Käse, die Guntram ihm in kleinen Brocken mundgerecht machte, und trank von dem Most, in den er das starke Schlafmittel gemischt hatte.
Bald schon streckte er sich auf der Decke aus und war friedlich eingeschlafen.
Inzwischen war es dunkel geworden, aber er musste noch etwas Geduld aufbringen, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Guntram hatte eine kleine Öllampe hier im Schuppen versteckt, die er nun hervorholte, anzündete und in sicherer Entfernung von dem Stroh aufstellte.
Mit Feuer und den Gefahren, die mit ihm verbunden waren, hatte er inzwischen schließlich mehr als genügend Erfahrung!
Und obwohl er am liebsten aufgestanden wäre und sich abgewandt hätte, konnte er nicht anders, als das schlafende Kind zu betrachten. Seine Wangen waren leicht gerötet; die dunklen Wimpern erinnerten an zarte Seidenfäden. Der rosige Mund stand leicht geöffnet; die Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Welch Schmerz, dieses Kleinod verlieren zu müssen, Jan van der Hülst, dachte er grimmig. Nicht vergleichbar mit ein paar Dutzend Ballen verbrannten Brokats und einigen verkohlten Chronometern! Ein Schmerz, von dem du dich, so Gott will, niemals wieder erholen wirst.
Seine innere Erregung wurde übermächtig. Schließlich hatte er viele Jahre von makellosen eigenen Kindern geträumt, die er eines Tages mit Lea haben würde. Sie jedoch hatte ihm nicht nur diesen jüdischen Metzger vorgezogen, sondern sich auch von ihm schwängern lassen! Er hatte ihren dicken Bauch gesehen, als sie sie wie eine läufige Hündin am Markt gestellt hatten. Sie hatte ihn verschmäht, seine Liebe mit Füßen getreten. Jetzt sollten alle Juden dafür büßen, was sie ihm angetan hatte!
Er stand auf, ging zur Tür, stieß sie auf und nahm ein paar Schlucke aus der Branntweinflasche. Draußen war es ganz still; außer ein paar Hunden, die den Mond anbellten, war kein Laut zu hören. Von fern vernahm er neun schwere, gleichmäßige Schläge. Jetzt würden bald die Geißler auf dem Domplatz mit ihren Klagen beginnen, ein Spektakel, das täglich immer mehr Schaulustige anzog. Eines ihrer Lieder hatte es ihm besonders angetan. Halblaut begann er zu singen.
»Jesus Christus ward gefangen und an ein Kreuz gehangen.
Das Kreuze war vom Blute rot,
wir beklagen sein Martyrium und seinen Tod.
Sünder, womit willst du mir lohnen?
Drei Nägel und eine dornige Krone, einen Speer, einen Stich,
Sünder, das litt ich durch dich!
Für Gott vergießen wir unser Blut,
das ist für unsere Sünden gut …«
Er hielt inne. Begann zu grinsen. Inzwischen suchten sie ihn bestimmt schon überall, liefen mit Kerzen und Funzeln im Haus herum, wühlten im Keller, auf dem Speicher.
»Felix, Felix, wo bist du? Hat denn niemand meinen lieben, kleinen Sohn gesehen?« Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er ihre Aufregung mit gedämpfter Stimme nachäffte.
»Ihr werdet ihn finden, keine Bange.« Sein Atem ging stoßweise. »Aber leider zu spät. Und die Schuld daran trägst ganz allein du, Jan van der Hülst! Es wird Zeit, dass du für deine Sünden mit Blut büßt! Hättest du nicht mein Chronometer abgelehnt, um es dann heimlich irgendwo kopieren zu lassen, und damit meine Zukunft zerstört, ich hätte mich womöglich mit der Entführung deines Augensterns begnügt. So aber gibt es kein Zurück mehr. Dein Liebstes hier auf dieser Welt muss sterben.«
Er trank, bis ihm der scharfe Fusel aus dem Mund lief.
Felix schien schlecht zu träumen. Er wimmerte im Schlaf und hielt die grobe Decke fest umklammert. Guntram legte seine Hand auf den kleinen Kopf und genoss für ein paar Momente die Hitze, die von ihm ausströmte.
»Leb wohl, mein blonder Engel«, flüsterte er. »Schlaf gut! Schlaf
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