Pforten der Nacht
schließlich Straßburg, wo er nur Leichen und niedergebrannte Häuser vorgefunden hatte. Sie kannte das Gefühl, das sie seit Kindertagen immer überkam, wenn sie an ihre Mutter und Micha dachte. Und es war jetzt wiedergekehrt, obwohl sie nur einen einzigen Toten zu betrauern hatte, den sie nicht einmal geliebt, sondern nur geachtet hatte. In seinem Inneren musste es kalt und traurig aussehen. Wie ein schwarzer, toter See ohne eine Spur von Leben.
Er machte einen Schritt auf sie zu, aber sie wich seiner Berührung aus, nach der sie so verlangt hatte, dass sie auf einmal Angst hatte, sie nicht ertragen zu können.
»Weshalb bist du wiedergekommen?«, fragte sie leise. »Trotz all der tödlichen Gefahren ringsumher? Wieso nicht in Venedig geblieben?«
»Du kennst die Antwort«, entgegnete er sanft. »Du allein. Deine Stimme war immer bei mir. Und meine bei dir. Oder hast du nicht gehört, wie ich dich gerufen habe?«
Ihr Herz machte einen schnellen Satz und schlug dann härter gegen die Rippen. In der Stube war es auf einmal noch stickiger als bisher. »Doch«, erwiderte sie leise. »Unten am Fluss.«
»Ich wusste es!« Er begann erleichtert zu lächeln.
»Ich darf sie aber nicht kennen«, widersprach Anna heftig. »Nicht mit dieser Werkstatt hier, die wie ein Mühlstein an meinem Hals hängt, gleichzeitig jedoch das Einzige ist, was mich vom Elend trennt, in das ich sonst wieder zurückmuss. Nicht mit meinem Kind, das nun seinen ehrbaren Vater verloren hat. Und für das ich schnellstens einen neuen suchen muss, damit es in Frieden und Geborgenheit aufwachsen kann.«
»Vor allem nicht mit einem Juden, der die Christin nicht lieben darf, obwohl er sie geliebt hat, seitdem er denken, fühlen, atmen kann!« Sein Ton war heftig geworden. Jetzt stand er nah vor ihr, ohne sich um ihren stummen Widerstand zu scheren. »Das hast du noch vergessen hinzuzufügen.«
So fremd stand sie vor ihm mit ihrer Witwenhaube, die das Haar verbarg, dem schwarzen Kleid, das streng am Hals oben abschloss. An ihrer Hand trug sie zwei ineinander verschlungene Goldreifen, den Ehering des toten alten Gerbers und ihren eigenen, miteinander zu einer Acht verbunden. Und er hatte gedacht, jetzt wäre sie endlich frei! Sie erschien ihm unerreichbarer als jemals zuvor. Beklommenheit überfiel ihn. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen.
»Anna, ich …«
»Lass mich«, flehte sie. »Ich bin so verwirrt, so durcheinander. Siehst du nicht mein schwarzes Kleid? Er war schließlich mein Mann. Und die Zeit der Trauer ist noch lange nicht vorbei.«
»Und wenn wir nun mal keine Zeit haben? Wenn morgen schon der Pöbel über uns herfällt oder die Pest sich in unsere Häuser schleicht wie ein tückischer Dieb in der Nacht? Du hast nicht gesehen, wie schrecklich sie sterben, Anna, hast nicht ihre entstellten Leichen mit eigenen Händen begraben, weil es keine Leichenwäscherin mehr gab, keinen einzigen Totengräber, der dieses traurige Amt übernommen hätte! Das ist kein sanfter, friedlicher Tod, der gnädig und schnell kommt, sondern die Hölle auf Erden.«
»Aber was sollen wir tun?«, fragte sie verzweifelt. »Unser Leben liegt ganz in Gottes Hand.«
Sie erschrak, kaum, dass sie diese Worte ausgesprochen hatte. Hatte sie nicht Ähnliches zu Ardin gesagt, kurz bevor er gestorben war? Und ihn damit erst recht in den Tod getrieben?
»Aber das heißt doch nicht, dass wir teilnahmslos darauf warten müssen, was das Schicksal uns zuteilt! Dass wir ausharren müssen und dem Schlächter wie Opferlämmer den wehrlosen Hals hinstrecken.« Er sprach wie im Fieber, schien ihr stilles, immer weißeres Gesicht gar nicht mehr wahrzunehmen. »Hör mir zu, Anna, ich bin nur scheinbar als mittelloser Wandersmann über die Alpen gezogen. Ich konnte ein paar Schätze bergen, der Grundstock eines kleinen Vermögens, das unser Leben für die nächsten Jahre sichern würde. Vergiss dein Haus, vergiss die Wasserwerkstatt, die dir nichts als Mühen bereitet! David del Ponte hat mich zum Erben eingesetzt. Eines Tages, wenn dieser Albtraum hier vorüber ist, kehren wir nach Venedig zurück. Und für die Zwischenzeit suche ich uns einen ruhigen, sicheren Platz. Irgendwo, fernab von Köln. Zum Beispiel in Flandern, wo der Himmel weit ist und das Meer ganz nah.«
Sie hatte sich während seines Redens abgewandt. Das war es also, was er wirklich wollte! Wieder weglaufen und sie zurücklassen, wie er es schon zweimal getan hatte. Was gingen sie seine Edelsteine an,
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