Pforten der Nacht
seine Besitztümer, die er irgendwo hatte? Wenn sie die Gerberei und das Haus verlor, besaß sie nichts mehr. Dann war sie eine Bettlerin und ihr Kind nicht minder.
Und sie hatte einen Augenblick lang geglaubt, er wolle ihr wirklich beistehen!
Er sah nur ihren kräftigen Rücken, der unmerklich bebte.
»Was ist, meine Anna?«, fragte er zärtlich und drehte sie langsam herum, um die Antwort in ihren sprechenden grauen Augen zu lesen. »Weinst du?«
»Ja, ich weine«, sagte sie erstickt und mied seinen Blick.
Sie taugte wahrlich nicht zur Liebe! Schlimmer noch, es brachte Unheil, überhaupt zu lieben. Johannes hatte sie verletzt, gedemütigt und sich anschließend von der Welt ganz abgekehrt, Leonhart war durch ihre Schuld vom Dach gefallen. Und auch Esra konnte sie nicht halten. Er hatte seine erneute Flucht bereits geplant. Ihn jedoch abermals zu verlieren würde ihr das Herz brechen. Besser, sie verschloss es vor ihm, solange sie noch ein Quäntchen Kraft dazu besaß. Sie hatte lernen müssen, ganz allein für sich zurechtzukommen. Sie würde es auch dieses Mal schaffen. Selbst wenn sie damit die Liebe für alle Zeiten verloren hatte.
Sie straffte sich, befreite sich aus seinem Griff.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst«, sagte sie fest. »Und nicht mehr hierherkommst.«
Er starrte sie an wie eine Erscheinung. An ihrer Miene und Haltung erkannte er, wie ernst es ihr war.
»Ist das dein letztes Wort?«
Sie nickte. Dreimal schnell hintereinander, als könne sie es nicht oft genug bestätigen.
Anna, inzwischen wieder mit dem Rücken zu ihm, um nicht doch noch im letzten Augenblick die Beherrschung zu verlieren und sich an seine Brust zu werfen, zuckte zusammen, als die Tür hart ins Schloss fiel.
Aber ihre Tränen flossen erst, nachdem sie sicher sein konnte, dass Esra inzwischen weit genug vom Haus entfernt war.
Es war ganz einfach gewesen, den Kleinen vor dem Abendessen aus der Hofeinfahrt zu locken. Schließlich hatte Guntram Brant lang genug das Anwesen Jan van der Hülsts in der Kaufmannsgasse beobachtet, um alles Notwendige über die Gewohnheiten seiner Bewohner zu erfahren. Dem blonden Lockenkopf schien es großen Spaß zu machen, seinen törichten Kinderfrauen so oft wie möglich zu entwischen, das wusste er spätestens seit jener Nacht, in der er mit den aufständischen Fleischergesellen hier eingedrungen war. Am Morgen dann, als er beobachtet hatte, wie seine stolze Beginenschwester den Ausreißer zurückgebracht hatte, war ihm erstmals diese wunderbare Idee in den Sinn gekommen, die alle seine Feinde auf einen Streich erledigen würde. Aber erst der alte Geißler, der ihm jüngst von dem Ritualmord an einem Knäblein berichtet hatte, den man in Zürich den Juden angelastet hatte, ließ den Plan schließlich zur Gänze reifen.
Glücklicherweise kannte Felix keine Spur von Scheu vor Fremden. Nicht einmal das Teufelsmaul schien ihn zu ängstigen. Bereitwillig, als sei es schon viele Male zuvor geschehen, ließ er sich von Guntram an die Hand nehmen, der ihn in der Abenddämmerung zum Weschbach brachte und dort in den leeren Schuppen führte, in dem Bela van der Hülst früher ihre Almosen an die Armen verteilt hatte. Ein paar Bretter waren inzwischen herausgebrochen; die tief stehende Sonne fiel durch die Ritzen und tauchte das staubige Innere in ein unwirkliches, goldenes Licht.
Noch war es zu früh für das, was er tun musste. Er war entschlossen, nicht damit anzufangen, bevor nicht auch die anderen auf der Geißelstatt ihr blutiges Werk beginnen würden. Er war ganz ruhig. Nicht einmal seine Hände zitterten.
Felix, der nicht ahnen konnte, was ihm bevorstand, kletterte munter überall herum und betatschte mit seinen kleinen Fingern die vielen unbekannten Gegenstände, die zu seinem offenbaren Entzücken hier herumlagen: ausrangierte Holzzuber, große Schöpflöffel, gebeizt in unzähligen Färbergängen. Leere Säcke mit Spuren von Krapp oder Waid. Ein paar lose Stängel Schafgarbe, längst vertrocknet. Das Netz, dessen wehrlose Beute er bald schon werden würde. Schließlich entdeckte er hinter einem Strohballen sogar das gut versteckte scharfe Messer.
Guntram riss es ihm sofort aus der Hand, hob ihn hoch und schüttelte ihn unsanft. Er war schwerer, als er gedacht hatte, roch ganz leicht nach Schweiß und Kamille, mit der man wohl sein blondes Haar wusch.
»Lass das sofort los!«, bellte er. »Du tust dir sonst noch weh damit.« Unwillkürlich musste er laut auflachen. Als ob das
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