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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Geste legte sie sich beide Hände auf den Bauch, als wolle sie das Wesen, das in ihr wuchs, vor allen nur denkbaren Gefahren schützen. »Obwohl ich eben erst begonnen habe, richtig gern zu leben.«
    Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, ihr die Aufzeichnungen zu lesen zu geben, die er während seiner langen Reise gemacht hatte, dann aber doch gezögert. Wieso ihr sanftes Gemüt mit all dem Leid belasten, jetzt, wo sie ein Kind trug und jeden Tag ohnehin alles zu Ende sein konnte? Eine seltsam fatalistische Gelassenheit hatte ihn überkommen, die ihn lähmte und seiner gewohnten Entschlossenheit beraubte. Bislang war er keinen Schritt weitergekommen. All sein Flehen, nicht einmal die drastischsten Berichte über das, was er unterwegs gesehen hatte, hatten Jakub und Recha dazu bringen können, auch nur zu erwägen, die Stadt zu verlassen. Sein Onkel hatte nur gelacht, als er ihm die Edelsteine gezeigt, später abwehrend den Kopf geschüttelt, als er ihm von David del Pontes Erbe erzählt hatte.
    »Funkelnde Steine und stolze Häuser weit weg von hier, was soll das nützen, Esra? Die Welt ist nur ein Durchgang, um die Thora zu studieren und ein paar gute Taten zu vollbringen. Auf unserer letzten Reise zu Gott können wir ohnehin nichts von alledem mitnehmen. Wir danken dir für dein großzügiges Angebot, mein Sohn! Aber meine Taube und ich haben alles, was wir brauchen. Und uns das zu gewähren, wonach wir uns sehnen, ein stilles, gottgefälliges Leben und einen friedlichen Tod, liegt allein in seiner Hand.«
    Wo sollten sie bei Licht betrachtet auch hingehen?
    Ringsumher hatte man vielerorts die Juden bereits zu Tode gehetzt; in anderen Städten des Reiches und außerhalb seiner Grenzen wütete die Pest. Fürs Erste schien Köln tatsächlich noch der sicherste Platz weit und breit. Außerdem konnte er hier in Annas Nähe sein und versuchen, ihr langsam näher zu kommen, bis sie eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages endlich ganz zu ihm gehören würde.
    Deshalb unterstützte er Leas Freiheitsdrang, ganz zum Unwillen Rechas, die Tag für Tag neue Argumente ersann, um sie ans Haus zu fesseln. Lea freilich ließ sich nicht beirren.
    »Brauchen wir noch etwas vom Heumarkt?«, fragte sie, stülpte sich einen Spitzenschleier über das Haar und lud sich die von Anna vererbte Kraxe auf den Rücken, die ihr das Gehen einfacher machte als ein schwer beladener Korb. Seit gestern war dort Dult, und es gab in den roh gezimmerten Holzbuden allerlei Tand zu kaufen, Bänder, Spitzen, Garne, Stoffe und vor allem weiches Vlies, wie man es für Säuglinge brauchte.
    »Nichts«, erwiderte Recha kategorisch, »rein gar nichts! Und was mich betrifft, so wäre mir wesentlich wohler, wenn du zu Hause bliebst! Weißt du nicht, was draußen los ist? Täglich kommt ein neues Lumpenheer nach Köln! Außerdem ist es draußen so erbärmlich heiß, dass sogar die räudigsten Köter den Schatten nicht verlassen.«
    Lea lachte und machte sich auf den Weg. Währenddessen nahm Recha sich Küche und Stube vor, fegte und wischte nach Kräften und setzte schließlich einen Topf mit Gänseklein auf. Dabei bewegten sich unablässig ihre Lippen, als führe sie einen stummen Dialog. Schließlich ging sie nach oben, um die Schlafkammern zu richten.
    Ein Poltern schreckte sie aus ihrem gewohnten Schütteln und Klopfen auf. So schnell sie konnte, rannte sie die enge Treppe nach unten.
    In der Stube stand Lea, das Haar aufgelöst, die Augen angstvoll geweitet. Blut tropfte von ihrer Schläfe, und das Kleid war schmutzig und zerfetzt, als hätte sie sich mit letzter Kraft aus gierigen Händen befreit. Sie atmete stoßweise; man sah, wie sich das Kind in ihrem geschwollenen Leib ebenfalls unruhig bewegte.
    »Was ist geschehen?« Recha packte sie bei den Händen und drehte sie zum Fenster. »Rede! Was hat man dir angetan? Bist du verletzt? Hast du Schmerzen? So sag doch endlich etwas, Lea!«
    Unfähig, einen Ton herauszubringen, schüttelte Lea stumm den Kopf. Esra und Jakub, die gerade aus der Synagoge nach Hause kamen, blieben ebenfalls wie erstarrt stehen.
    »Sie geißeln sich«, stieß sie schließlich unter sichtlichen Mühen hervor, »mit eisernen Spitzen. Bis aufs Blut. Hunderte von Männern, mit ihren roten Kreuzen auf dem Hut! Und dazu singen sie fürchterliche Lieder …«
    Sie brach ab. Begann haltlos zu weinen.
    Esra berührte zart ihren Arm.
    »Ich weiß«, sagte er. »Jetzt sind sie also auch hier angekommen, diese Wahnsinnigen! Kein Wunder,

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